Geisterblumen
schäbig grüne Toilettenkabinen, daneben ein Pissoir. Neben der Tür hing eine abgestempelte Liste, nach der das Reinigungsteam am Morgen hier gewesen war, doch das glaubte ich nicht. Hier hätte man locker fünf Stunden schrubben können.
»Könnten Sie sich bitte umdrehen? Ich hätte gern ein bisschen Privatsphäre.«
Er ignorierte mich und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand, noch immer mit düsterer Miene. Irgendetwas an ihm kam mir vertraut vor, doch dann begriff ich, dass es vermutlich nur der Ausdruck in seinen Augen war, dieser kalte Polizistenblick. Den kannte ich aus Erfahrung.
Ich fragte mich, wofür das N. stehen mochte. Vermutlich für »neugierig«.
Meine linke Hand sah schlimm aus, die Knöchel waren vom Kinnhaken gegen den Leibwächter mit Blut bedeckt – meinem, wie ich beim Waschen bemerkte – und schwollen an. Ich würde sie ein paar Tage lang nicht gebrauchen können, je nachdem, wie lange ich einen Verband trug. Auch das war Teil meines Plans: Niemand konnte erwarten, dass ich mit einer verbundenen Hand Klavier oder Tennis spielte.
Alles lief genau so, wie ich es mir gedacht hatte. Es war alles …
Du bist verflucht, nur halb lebendig.
Ich schauerte.
Hör auf,
sagte ich mir. Ich zog mit der rechten Hand mein T-Shirt hoch und merkte erst jetzt, dass ich zitterte. Nicht nur meine Hände, mein ganzer Körper zitterte völlig unkontrolliert. Es lief wie geplant, aber was machte ich wirklich hier? Bis jetzt war es ein Spiel gewesen, eine Täuschung, eine Idee. Wie im Theater, man schlüpft für ein paar Stunden in eine Rolle, danach geht man wieder nach Hause, liegt auf dem Sofa, isst Käsepopcorn und schaut sich Filme an und ist wieder man selbst. Jetzt nicht mehr. Jetzt war es unwiderruflich Realität geworden.
Auf Coralee Golds Abschlussparty aufzukreuzen war der Sprung ins kalte Wasser gewesen. Ich hatte mich verpflichtet, ohne Wenn und Aber. Man hatte mich gesehen. Man hatte mich gefilmt. Bis morgen hätten Auroras ehemalige Freunde und Klassenkameraden ihre Filme bei YouTube eingestellt. Ich konnte nicht mehr weglaufen. Ich saß in der schlimmsten denkbaren Falle – einer Falle, die ich mir selbst gestellt hatte. Anscheinend wusste ich sogar selbst, dass ich unzuverlässig war.
Der Boden schien sich unter mir zu bewegen, in meinem Kopf drehte sich alles. Aber ich wollte verdammt sein, wenn ich vor diesem halb-hässlichen Polizeibeamten in Ohnmacht fiel. Ich lehnte mich ans Waschbecken und legte die rechte Handfläche an den Spiegel. Ich sah, wie schwarze Spuren aus Wimperntusche wie Rinnsale über meine Wangen liefen.
Ich hätte die wasserfeste nehmen sollen
, dachte ich und fing an zu lachen, wie man über Dinge lacht, die nicht lustig sind, unmittelbar bevor man in Schluchzen ausbricht.
»Beeil dich«, sagte N. Martinez.
Wäre er in diesem Augenblick zu mir gekommen und hätte gefragt, ob alles in Ordnung sei, hätte er irgendetwas Nettes gesagt, das auch nur im mindesten ermutigend oder freundlich oder rücksichtsvoll gewesen wäre, wäre ich wohl zusammengebrochen. Aber sein unpersönlicher, schroffer Kommandoton riss mich aus meiner Panik. Und meine Angst verwandelte sich in Zorn.
»Ich möchte Ihnen unter keinen Umständen Unannehmlichkeiten bereiten«, sagte ich, schnappte mir einige Papierhandtücher und fing an, mir die Wimperntusche aus dem Gesicht zu wischen.
»Das bezweifle ich.«
Sein Ton ließ mich innehalten – er klang fast, als wollte er einen Witz machen. Aber das erschien mir … unwahrscheinlich. Ich widerstand dem Drang, ihn anzuschauen, und konzentrierte mich stattdessen auf den Erste-Hilfe-Kasten. Ich fand einen elastischen Verband und wickelte ihn um meine linke Hand. Dann fuhr ich mir mit den Fingern der rechten Hand durch die Haare und wollte mich gerade vom Spiegel abwenden, als ich merkte, dass ich den Scheitel auf der falschen Seite gezogen hatte. Auf Eves Seite. Ich änderte ihn rasch, drehte mich zu ihm um und sagte: »Fertig.« Dann streckte ich ihm die Hände hin, damit er mir die Handschellen wieder anlegen konnte.
Er wartete einen Augenblick, ließ die Handschellen von seinem linken Zeigefinger baumeln und schien die Situation zu genießen. Ich merkte, dass er irgendetwas plante, vermutlich einen unappetitlichen Vorschlag.
»Ich weiß nicht, was du ausheckst, aber was immer es sein mag, mach es nicht unter der Woche zwischen acht und zweiundzwanzig Uhr.«
Das überraschte mich, und anstelle zu sagen, was ich hätte sagen
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