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Geisterblumen

Geisterblumen

Titel: Geisterblumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michele Jaffe
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eigentlich das falsche Wort; es war eher ein Thron mit aufwendig geschnitzten goldenen Armlehnen und üppigen roten Samtkissen. Er war groß und wirkte noch größer, weil die Frau darauf winzig klein war, fast wie ein Vogel. Sie hätte jedes Alter zwischen dreißig und sechzig haben können. Ihr langes Haar war unnatürlich schwarz, und sie trug ein lapislazuliblaues, mit Gold besetztes Gewand. Sie hatte die Augen geschlossen, den Kopf nach hinten geneigt und bewegte die Lippen.
    Dann begriff ich. Coralee Gold hatte für ihre Party ein Medium angeheuert. Ich musste ein Lachen unterdrücken. Das war entweder das Beste, was mir passieren konnte, oder das Allerschlimmste.
    Ich horchte angestrengt. »Wer von euch ist da? Ich sehe zwei, höre aber nur eine. Welche bist du?«
    Einen Moment lang herrschte jenes Schweigen, das entsteht, wenn hundert Menschen zugleich den Atem anhalten, das Schweigen, das sich an einen heftet und eine Gruppe in einen einzigen sehnsüchtigen Organismus verwandelt. Ich hatte gute Gründe, um nicht an Geister oder Medien zu glauben, doch als das Schweigen andauerte, konnte auch ich mich ihm nicht entziehen. Ich wollte daran glauben und war zugleich ängstlich, was als Nächstes geschehen würde. Die Spannung wuchs, bis sie nahezu erstickend wurde. In diesem Moment öffnete die dunkelhaarige Frau den Mund und sagte mit einer dünnen, durchdringenden Stimme, die ganz anders klang als zuvor: »Ich bin Aurora.«
    Ein Schauer durchlief die Menge. Alle reckten die Hälse und horchten, doch die nächsten Worte waren kaum zu verstehen.
    Das Medium fragte mit seiner eigenen Stimme: »Kannst du das wiederholen? Wir können dich nicht richtig verstehen, Aurora.«
    Stille.
    »Ich hatte sie, aber sie entgleitet mir«, sagte das Medium und schüttelte den Kopf. Sie hatte die Augen geschlossen, als spräche sie eher zu sich selbst als zu uns. Sie holte tief Luft, legte die Finger an die Schläfen und verkündete: »Aurora oder Elizabeth, wenn eine von euch noch hier ist, klingle mit der Glocke.«
    Das beklemmende Schweigen dauerte an. Und dann ertönte leise die Glocke.
    Alle um mich herum richteten sich abrupt auf, als spürten sie denselben Schauer wie ich, und ein Flüstern ging durch die Menge. Ich sagte zu der Person neben mir: »Das ist ja cool.«
    Der Mann drehte sich um und sah mich an. Und keuchte auf.
    Was folgte, war faszinierend – ein leises Murmeln, Körper, die sich bewegten, ihre Nachbarn anstießen, ein Zittern durchlief die Menge und zog Kreise, wie wenn ein Blatt auf die Oberfläche eines Teichs fällt, bis jemand laut sagte: »Oh, mein Gott, das ist Aurora Silverton.«
    Das Medium riss die Augen auf und schaute mich an, schrie auf und begann sich zu winden. Die Menge machte ihr Platz, und sie bewegte sich ruckartig auf mich zu, als wäre sie eine Marionette, deren Arme und Beine von einem unsichtbaren Riesen gelenkt wurden. Sie blieb schwankend vor mir stehen, verdrehte die Augen, und ihre langen, blutroten Fingernägel deuteten in meine Richtung. »Du … du wagst es, das Werk unserer Schwester Madam Cruz zu verspotten«, sagte sie in einem tiefen, dröhnenden Bariton, der ganz anders klang als die Stimme, mit der sie zuvor gesprochen hatte.
    »Ich habe niemanden verspottet, ich wollte nur …«
    »Schweig!« Sie wandte den Kopf zur Seite, und ihr Gesicht bewegte sich neben mir auf und ab, als wäre sie ein Raubtier, das seine Beute beschnüffelt. »Du bist verflucht, nur halb lebendig. Gib acht, dass das Böse dir nicht die lebendige Hälfte raubt. Du kommst aus einer Welt der Lügen und Schatten, und sie haften wie Efeu an dir. Du trägst den Gestank des Todes in dir.«
    »Es tut mir wirklich leid, ich …«
    Aus der Tiefe ihrer Kehle stieg ein seltsames, tiefes Knurren empor. »Deine Strafe erwartet dich schon. Die Geister werden sich rächen. Geh! Verschwinde! Wenn du ein bisschen Vernunft besitzt, wirst du für immer von hier fliehen!« Dann wurde sie ohnmächtig.
    Danach wurde die Sache etwas hektisch. Überall wurden Smartphones hervorgeholt, ein Schwarm von Leuten umringte mich. Bain hatte mir erzählt, dass Aurora und Liza sich von den anderen Schülern ferngehalten hatten, was vermutlich auch erklärte, weshalb die Gäste zwar näher kamen, mich aber nicht ansprachen, sondern nur durch die Kameras ihrer Mobiltelefone betrachteten. Ein paar Mädchen machte Anstalten, mich zu umarmen, doch sie wirkten eher misstrauisch als froh.
    So als wäre Aurora ganz nett, aber nicht nett

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