Geisterfahrer
gelungen war, mir das Prinzip des Skatspiels beizubringen. Ich wusste nach wie vor nichts mit »Ohne zwei, Spiel drei« anzufangen. Mir war zwar klar, wie man den Wert eines Spiels errechnete und sich beim Reizen verhielt, aber ich war noch immer nicht dazu in der Lage, ein gewinnbares Spiel zu erkennen. Oder eben zu gewinnen. Wenn ich zwei Siebenen hatte, reizte ich auf Null, waren ein Ass und ein oder zwei Buben auf der Hand, versuchte ich einen Grand, diese Spiele wenigstens hatte ich im Ansatz kapiert. Natürlich gewann ich sie nicht.
»Du bist doch sonst nicht so blöd«, schimpfte Kuhle. Selbst wenn wir mit »Kalle« spielten, dem blinden dritten Mann, also einem Kartenstapel, von dem jeweils die oberste Karte gezogen wurde, gelang es mir selten, die zum Sieg nötigen 61 Punkte zu erreichen.
»Willst du wirklich Buben ziehen«, nörgelte er, wenn ich mit einem Spiel zwei einen Grand versuchte und meinen einzigen Bauern auf den Tisch schmetterte – die Kraft beim Aufdentischlegen einer Karte schien mir dabei fast bedeutungsvoller als ihr Wert. »Du hast doch nur einen.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe die anderen drei, du Hirni. Und denk doch auch mal an den nächsten Stich.«
So ging es nachmittagelang. Trotzdem machte es mir Spaß.
Wenn ich dann zu meiner Pflegefamilie zurückkehrte, war es ein bisschen, wie aus dem Sommer direkt in den Winter zu kommen. Als würde jemand die Sonne einfach ausknipsen und es in einer grauen Dämmerung auf die prächtig blühenden Wiesen schneien lassen. Es wurde kalt und dunkel.
Bei uns war es sehr viel stiller als bei den Kuhlmanns. Seit Frank, Mark und ich nicht mehr miteinander spielten, lebten wir nebeneinanderher, aber das betraf nicht nur mich, auch die Brüder schienen nur noch wenig Interesse am jeweils anderen zu haben. Mark ging inzwischen auch auf die Oberschule, aber auf eine andere als wir; er hatte keine Realschulempfehlung bekommen, es auf Drängen seiner Eltern aber trotzdem versuchen müssen, und inzwischen besuchte er die Hauptschule, nach einem ziemlich versiebten ersten Halbjahr, an dessen Ende man ihn zum Wechsel gezwungen hatte. Frank schloss sich in seinem Kabuff ein, sobald er nach Hause kam, stellte das Radio an und lernte, wie ich vermutete, denn auch er kämpfte mit schwachen Schulnoten. Erst beim Abendessen trafen wir ihn wieder, und die Gespräche bei dieser Mahlzeit hatten sich auf ein paar Floskeln reduziert, interesseloses Fragen nach dem Schultag, dem Arbeitstag, dem abendlichen Fernsehprogramm. Es fehlte nur noch, dass jemand »Wie geht’s?« in die Runde warf.
Eine besondere Nähe zu meiner Pflegefamilie hatte ich nie verspürt, vor allem, weil es meine Pflegefamilie immer gut verstanden hatte, eine gewisse Distanz mir gegenüber aufrechtzuerhalten, eine, die mich zwar nicht wirklich ausgrenzte, mir dennoch deutlich zeigte, bis zu welchem Punkt ich dazugehörte und ab welchem nicht mehr, aber in dieser Zeit wurde ich mehr und mehr zu einem Beobachter. Während die vier richtigen Familienmitglieder nicht wahrnahmen, wie viel problematischer die Situation Tag für Tag wurde, schärfte sich mein Blick fortwährend für das, was schiefging oder schiefzugehen drohte.
Ich vermutete, dass es Jens gar nicht bemerkte, als Ute damit begann, sich morgens zu schminken. Sie war immer die blasseste Person in der Familie gewesen, eine, die zwar akribisch ihre Verwaltungsaufgaben wahrnahm, von der aber nie Impulse ausgingen, eine, die ständig im Hintergrund blieb, ohne die es aber nicht funktionierte. Sie hatte Jens’ Leidenschaften geduldet und unterstützt, aber sie selbst hatte kein Hobby oder Steckenpferd, ihre Schmallippigkeit schien Lebensprinzip zu sein. Ute wirkte unscheinbar, fast ein wenig grau. Umso mehr überraschte es mich, als sie mir eines Morgens mit nachgezogenen Lippen aus dem Bad entgegenkam, etwas, das ich an ihr bis dahin noch nie gesehen hatte. Ich war verblüfft und starrte sie an, aber Ute ging an mir vorbei und tat so, als wäre alles ganz normal.
Möglicherweise war ich auch der Einzige, dem auffiel, dass Mark immer schmaler und blasser wurde.
Der Nummer-eins-Hit in Deutschland zu dieser Zeit war »Major Tom (völlig losgelöst)« von Peter Schilling.
11. Tapes
Die Anlage meines Vaters stand zwar in dem Zimmer, das ich mir auch mit fünfzehn noch mit Mark teilte, aber ich hatte mich nur selten damit beschäftigt. Kuhle hingegen fand die Plattensammlung meines Vaters großartig, obwohl sie nur bis zum September 1974
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