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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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einzuatmen, und dann griff ich zu.
Jesus.
Als das Licht wieder anging, fühlte ich mich, als hätte jemand die Schale Götterspeise ausgelöffelt, die ich gewesen war. Ich war bis über die Haarspitzen verliebt.
Melanie strahlte mich an.
Zum Glück fragte ich nicht: »Willst du mit mir gehen?« Es lag mir tatsächlich auf der Zunge, aber mir wurde rechtzeitig klar, dass ich diese Frage zum letzten Mal fünf Jahre früher hätte stellen dürfen.
»Du bist unglaublich«, brachte ich heraus. »Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, finde ich dich zauberhaft.«
»Ich dich auch.«
»Echt?« Das verblüffte mich noch mehr als mein eigener Mut.
Sie zuckte die Schultern und sagte: »Männer.«
Männer. Als Mann hatte ich mich noch nie gesehen, und ich hatte eigentlich gedacht, noch eine ganze Weile ein Junge zu bleiben, aber wenn Melanie dieser Meinung war – warum nicht?
»Ich muss leider nach Hause«, sagte sie. »Wir bekommen noch Besuch.«
Dann küssten wir uns, bis sich jemand räusperte und uns bat, das Kino zu verlassen. Wir fuhren händchenhaltend U-Bahn, küssten uns viel zu selten, und eine Station vor meiner stieg sie aus. Ich wurde fast von den zuzischenden Schiebetüren zerquetscht, weil ich einfach nicht damit aufhören konnte, ihr hinterherzusehen.
Ich vermisste sie. Als ich zu Hause ankam, riss ich sofort das Telefonbuch L-Z unter dem Telefontischchen hervor und rief bei Schmöling an.
Eine dunkle, aber durchaus freundliche Männerstimme sagte: »Schmöling?«
»Hallo, hier ist Tim Köhrey.«
»Tim Curry? Der Hauptdarsteller der Rocky Horror Picture Show? Frank N. Furter! Nett, dass Sie anrufen.«
»Nein, nicht der Tim Curry«, sagte ich, und ich hörte diesen Kalauer tatsächlich zum ersten Mal. »Tim Köh-rei«, erklärte ich. »Ein Schulkamerad von Melanie.« Fast hätte ich gesagt: Der, der in ihre Tochter verliebt ist.
Mir wurde erst in diesem Moment klar, dass ich eigentlich nicht wusste, wie sich mein Nachname richtig aussprach. Als ich so weit war, meinen Namen irgendwo zu nennen, hatte es niemanden mehr gegeben, der mir diese Information vermitteln konnte. In meiner Pflegefamilie war es von Anfang an mit Betonung auf dem Ypsilon ausgesprochen worden, was sich tatsächlich wie »Curry« anhörte, und ich hatte das einfach übernommen.
»Ach so, schade«, sagte der Mann, aber auf freundliche Art. Dann hielt er offenbar die Hand vor den Hörer, aber ich bekam trotzdem mit, wie er rief: »Melly, hier ist ein Tim Curry für dich! Aber nicht der richtige!«
Es gab eine kleine Pause, dann hörte ich aus weiter Ferne eine Stimme antworten: »Doch.«
Vermutlich werden alle Männer der Welt bis zum Ende derselben hoffen, dass die Frau, die sie gerade erstmals küssen, mit eben dieser Berührung automatisch wieder zur Jungfrau wird, technisch wie romantisch, insbesondere Letzteres. Ich hatte nicht die Spur einer Erfahrung zu diesem Zeitpunkt, aber eine gewisse Ahnung von diesem Umstand. Während ich darauf wartete, dass Melanie ans Telefon kam, wurde mir klar, dass das, was ich in diesem Moment empfand – und es war eine Menge –, wahrscheinlich wenig mit der Sicht der Dinge zu tun hatte, die sie beschäftigte. Vielleicht aber lag ich damit auch völlig falsch.
»Tim«, sagte sie. Das enthielt mehr Informationen, als drei Buchstaben eigentlich zu transportieren in der Lage sein sollten.
»Ich wollte dich noch mal hören.«
»Das ist süß.« Ich sah sie lächeln. »Aber wir haben Besuch.«
»Sind wir …?« Ich brachte den Satz nicht ganz raus.
Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen.
»Ja. Wir sind. Denk mal an mich. Ich …«
»Ja?«
»Du weißt schon.« Dann legte sie auf.
    Wir hatten vor den Ferien nur noch eine Woche Schule, bis zum Freitag. Am Montagmorgen ging ich vor lauter Aufregung ohne Frühstück aus dem Haus, war eine gute Viertelstunde zu früh, drückte mich am Schultor herum, was vor allem zur Folge hatte, dass mir ständig jemand die Hand schüttelte oder auf die Schulter klopfte. Zwei Minuten vor Schulbeginn erschien Melanie in Begleitung einer Klassenkameradin. Sie lächelte, als sie mich sah, kam auf mich zu, umarmte mich, küsste mich auf den Mund und sagte: »Schön, dich zu sehen.«
    Ich sah sie an, maßlos überrascht, aber noch viel erfreuter, zog sie an mich heran, küsste sie auch und sagte: »Das kann man laut sagen.«
    Wir sprinteten in die Klassen, wobei ich vermutlich ein Lächeln auflegte, wie es das sonst an einem Montagmorgen um diese Uhrzeit an einer Schule nicht gab.

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