Geisterfahrer
wir hatten geschwiegen, als gäbe es einen Zeitpunkt, den man abwarten muss. Bis Dr. Klaus weit genug weg wäre. Aus den schmalen, eleganten Boxen, die neben dem Regal standen, erklang jetzt »Moonlight Shadow«.
Ich sparte mir ein blödes »Wovor?« und nickte stattdessen. Zumal ich nicht im Traum daran gedacht hätte, dass das, was jetzt möglicherweise gleich geschehen würde, geschehen könnte.
Melanie stand auf, ging zu den beiden hohen Fenstern, die bis zur Decke reichten, und ließ cremefarbene Ikea-Rollos herab. Sie nahm zwei Kerzen vom Schreibtisch, stellte sie auf den Tisch, ich umklammerte die winzige Teetasse. Mein kleiner Freund, den ich in der vergangenen Nacht erstmals seit drei Jahren nicht angerührt hatte, obwohl ich das Gefühl gehabt hatte, er könnte jeden Moment explodieren, saugte Blut.
Sie nahm meine Hand und führte mich zum Bett, hob den großen Teddybären vom Kopfkissen und stellte ihn auf den Fußboden. Wir setzen uns nebeneinander auf die Bettkante, Melanie streichelte meine Hand.
»Du hast noch nie, oder?«
Ich schüttelte langsam den Kopf.
»Ich auch erst zwei Mal.«
Zwei Mal waren zweihundert Prozent mehr als bei mir; ich war eine Jungfrau, sie eine Frau mit Erfahrung . In diesem Augenblick fürchtete ich mich, die Spannung in meiner Hose ließ spürbar nach.
Melanie küsste mich und sagte: »Ich mag dich sehr.«
»Ich dich auch.«
»Dann ist es ja gut.« Sie strahlte.
Wir küssten uns wieder, sehr lange, sehr intensiv, und irgendwann waren wir nackt. Mein Glied reckte sich ihr entgegen, und sie nahm es einfach in die Hand.
»Sachte«, sagte sie, als ich auf ihr lag. In meinem Kopf tobte es. Da waren so viele Dinge gleichzeitig zu tun. Wir küssten uns wieder, meine Hände fuhren etwas ratlos über ihren Körper. Sie spreizte die Beine ein wenig, lächelte mir offen ins Gesicht, als sie mir dabei half, zum ersten Mal den Weg zu finden.
Später am Nachmittag, wir hatten uns gerade wieder angezogen, hörten wir Schlüsselgeklimper, und eine Frauenstimme rief: »Melly, ich bin’s.« Nach dem Wecker auf Melanies Nachttisch waren zwei Stunden vergangen. Ihr Gesicht glühte, meines wahrscheinlich auch. Meine Lippen fühlten sich taub an. Mit jetzt vor Erschöpfung zitternden Händen trank ich kalten Vanilletee.
»Ich glaube, ich liebe dich«, flüsterte mir Melanie ins Ohr, als sie hinter mir vorbei zur Tür ging, um ihre Mutter zu begrüßen. Dr. Susanne war eine kleine Frau, einen guten halben Kopf kleiner als Melanie, sie hatte graue Augen, etwas dunkelblondere Haare und ein flächiges Muttermal auf der Wange.
»Sie müssen Tim sein«, sagte sie zu mir. Ich nickte und fragte mich, was in dieser Wohnung gestern besprochen worden war.
»Könnten Sie mich duzen?«, fragte ich. »Das Sie ist mir unangenehm.«
»Dann musst du auch Susanne zu mir sagen«, erklärte sie. Ich nickte wieder und beneidete Melanie um ihre Eltern. Das tat ich allerdings bei fast jedem, außer bei Frank und Mark.
Ich würde das Abendessen verpassen, aber das war mir egal, zumal es nicht mehr ill-egal zu sein schien, schließlich tauchten Frank und Mark so gut wie überhaupt nicht mehr auf, wodurch ich eine Art Stellvertreterposition eingenommen hatte, wenn auch eine schweigsame.
Jedenfalls blieb ich bei den Schmölings. Wir aßen zu dritt, Salat mit viel Grünzeug, Spaghetti, die hier Tagliatelle hießen und auf denen sich klumpiges, öliges Zeug befand, das ein bisschen säuerlich, aber nicht einmal schlecht schmeckte.
»Pesto«, sagte Melanie grinsend.
»Wir essen kein Fleisch«, erklärte Susanne.
Ich öffnete den Mund, um »Warum nicht?« zu fragen, ließ es aber und schob mir stattdessen eine Fuhre Pasta hinein.
Melanie kochte neuen Tee, diesmal Erdbeere, und dann gingen wir zurück in ihr Zimmer und redeten. Ich erzählte von meiner Kindheit, den vergangenen Jahren, meiner Pflegefamilie, von Edeka, Musiktapes und von Kuhle.
»Er ist in diese Sabrina verliebt. Sabrina Ergel«, sagte Melanie.
»Woher weißt du das?«, fragte ich verblüfft.
»Jeder weiß das. Es war praktisch das Erste, was ich gehört habe, als ich an die Schule kam.«
Melanie liebte die Fotografie, Bücher, Blumen, ihre Eltern und mich. So ungefähr sagte sie es auch, was mich erröten ließ. Melanie mochte die Gegend, den Wedding nicht, den sie als fürchterlich verdreckt empfand, und sie benutzte tatsächlich das Wort »Proletengegend«, wie Kuhles Vater. Melanie empfahl mir ein paar Bücher, ich schwärmte von einigen Platten.
»Ich glaube,
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