Geisterfahrer
Tanzfläche brechend voll, auf den Bänken am Rand saßen nur noch die üblichen Verdächtigen, einschließlich der Rothaarigen mit den hochhackigen Schuhen und dem Egel aus unserer Klasse. Wir schalteten den Spot für die Discokugel ein, legten noch etwas Nebel und fühlten uns wie die Könige. Wie Götter. Kuhle strahlte. Ich strahlte.
Dann sah ich Melanie. Sie stand beim Kartoffelsalat und blickte zur Bühne. Und sie lächelte mich an.
Der Moment war gekommen, ich zögerte keine Sekunde. Ich bat Kuhle, »Come Back And Stay« rauszusuchen, cuete den Titel, sagte: »Übernimmst du mal« und stieg von der Bühne. Ich nahm zur Kenntnis, dass Kuhle den Übergang verkackte. Ich hatte das Gefühl, vor mir würde sich eine Gasse bilden. Ich merkte, dass ich schwitzte. Dann stand ich vor ihr.
»Möchtest du tanzen?«, fragte ich.
Sie lächelte.
Und dann, eine Ewigkeit später, nickte sie.
Dass ich gar nicht tanzen konnte, hatte ich völlig vergessen.
Als um Punkt zehn die Deckenbeleuchtung aufflammte und Herr Mahler auf die Bühne kam, zogen wir zum letzten Mal die Regler runter. Mein Shirt war klatschnass, Kuhles Haare sahen aus wie ein fürchterlich schiefgegangener Versuch, Franks Irokesen nachzuahmen, meine Fußsohlen brannten.
Die Schüler auf der noch immer vollen Tanzfläche drehten sich zur Bühne, und dann applaudierten sie. Lange. Ich kämpfte gegen Tränen an, Kuhle ließ es einfach laufen.
»Das habt ihr toll gemacht«, sagte Herr Mahler ins Mikrofon. Die Schüler applaudierten nochmals.
»Das finde ich auch«, hauchte mir Melanie Schmöling ins Ohr, als ich von der Bühne kam, und nahm meine Hand.
Der Nummer-eins-Hit in Deutschland an diesem Tag war »Self Control« von Laura Branigan.
13. Kino
Das Telefon als Kommunikationsmittel hatte bis dahin nahezu keine Bedeutung für mich gehabt, da ich meinen besten und einzigen Freund sowieso andauernd sah und es darüber hinaus nur sehr wenige Leute gab, die als Anrufer in Frage kamen. Gelegentlich meldete sich ein Mitschüler wegen irgendwas, einer vergessenen Hausarbeit oder so, ab und zu rief mich jemand an, um zu fragen, ob es dieses oder jenes Tape noch gab.
Er klingelte so gut wie nie, der birkenlaubgrüne Tastenapparat im Flur, bei dem die Taste mit der Sechs nicht mehr herauskam, wenn man nicht wusste, wie man sie zu drücken hatte. Frank bekam sporadisch Anrufe, und wenn ich gerade in der Nähe war und deshalb den Hörer abnahm, hauchte meistens irgendeine Grabesstimme seinen Namen. Die Grabesstimmen wechselten, mal waren sie männlich, manchmal weiblich, immer undefinierbaren Alters, und ich nahm an, dass es bei der Art Punkern, zu denen Frank gehörte, einen speziellen Telefoncodex gab.
Utes Chef, der auch mein Chef war, rief an, was natürlich erschien. Weniger natürlich war, dass sich Ute mit dem Telefon in die Küche zurückzog und das ohnehin verdrillte und zerkratzte Kabel zwischen Schwelle und verschlossener Küchentür einklemmte.
Jens wurde von Arbeitskollegen und Verwandten angerufen. Mark bekam keine Anrufe. Mark erschien wie ein Geist, meist lange nach Schulschluss, und das sich verstärkende Geisterhafte, das ihn umgab, machte seine Anwesenheit ansonsten nahezu unspürbar. Ich merkte nicht einmal, wenn er unten ins Bett kroch. Jedenfalls lag er morgens immer drin – reingekrochen war er also irgendwann.
Der Anruf, auf den ich jetzt so sehnlich hoffte, kam erst am frühen Nachmittag, nach dem leblosen Mittagessen mit Jens und Ute. Frank und Mark waren irgendwo, Ute fragte schon nicht einmal mehr, wer zum Essen erscheinen würde, kochte aber immer eine Menge, die in etwa reichte. Mama Kuhlmann hätte natürlich verzweifelt den Kopf geschüttelt.
Es war vierzehn Uhr zweiundzwanzig und siebzehn Sekunden, als ich den Hörer abnahm und eine Engelsstimme hörte.
»Hier ist Melanie.«
»Melanie«, wiederholte ich unlyrisch, griff den Apparat, zerrte die bockige Schnur unter dem Telefontischchen hervor und ging zitternd in die Küche.
»Ja, Melanie. Du erinnerst dich an mich?«
»Ich habe auf deinen Anruf gewartet. Seit heute morgen«, gestand ich sofort. Glücklicherweise klapperten meine Zähne nicht.
»Du hättest mich auch anrufen können.«
»Ich wollte dich nicht stören.«
»Du hättest mich nicht gestört.«
»Das wusste ich nicht.«
»Du hättest es wissen können.«
Ich nickte.
»Tut mir leid. Ich freue mich sehr, dass du anrufst.«
»Ich mich auch«, sagte sie, und mein Ohr begann zu glühen.
»Ich mich auch«, wiederholte
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