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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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du musst jetzt langsam wirklich gehen«, sagte sie, als es kurz vor elf war. »Morgen ist Schule.« Ich sah zum Bett, auf dem wieder der große Teddy hockte, und nickte etwas widerwillig.
»Tu mir einen Gefallen«, sagte sie vor der Tür, nachdem sie mich zum Abschied geküsst hatte.
»Jeden.«
»Nenn mich nicht Melly. Das ist meinen Eltern vorbehalten. Wenn du mir einen Kosenamen geben willst, musst du dir einen ausdenken.«
Ich zuckte lächelnd die Schultern, weil ich auf diese Idee überhaupt noch nicht gekommen war.
»Bis ich etwas gefunden habe, werde ich dich Mel nennen, ist das in Ordnung?«, schlug ich vor.
Sie lächelte und nickte.
Auf dem Heimweg fiel ich mehrfach fast auf die Fresse, weil ich die ganze Zeit das große Porträtfoto ansah, das sie mir geschenkt hatte. Auf die Rückseite hatte sie ein Herz gezeichnet, in das sie unsere Initialen gesetzt hatte, verbunden mit einem Pluszeichen.
Kuhle fragte mich aus, als wir am nächsten Tag von der Schule nach Hause gingen. Ich erzählte ihm nicht alles, aber vermutlich war es mir einfach anzusehen.
»Ich beneide dich«, sagte er, ohne eine Spur von Neid in der Stimme.
Die Kuhlmanns fuhren in der ersten Ferienhälfte in den Urlaub, die Schmölings in der zweiten. So gab es keinen Interessenkonflikt, meine Pflegefamilie machte keinen Urlaub. Ich sah Melanie fast jeden Tag, und obwohl es mich hauptsächlich in das große Metallbett mit dem Baldachin zog, bestand sie darauf, auch außerhalb des Bettes etwas mit mir zu unternehmen. Wir gingen ins Kino, wir spazierten durch den Humboldthain, fuhren mit dem Fahrstuhl des Funkturms, um uns auf der Aussichtsplattform in einem Wirbel silberblonder Haare zu finden, wodurch wir uns kaum küssen konnten, was wir im Prinzip pausenlos taten. Wir badeten im Strandbad Wannsee, was mich abermals mit einem völlig neuen Gefühl konfrontierte, nämlich Eifersucht. Als sich Melanie Rock und Bluse ausgezogen hatte, um sich, im weißen Bikini, die Ellenbogen aufgestützt, auf den Rücken zu legen, das flirrende Haar hinter ihr auf der Decke ausgebreitet, die leicht gebräunte, weiche Haut im Sonnenlicht, pendelten Dutzende Augenpaare zu uns, als wären sie Kompassnadeln und Melanie der Pol. Vom Grundschüler bis zum alten Sack, alle starrten.
Ich ging mit Melanie essen, in einer schmuddeligen Pizzeria in der Stromstraße; es war das erste Mal, dass ich mit jemandem essen ging, der nicht zu meiner Pflegefamilie gehörte. Melanie führte mich ins Tierheim Lankwitz, weil sie sich früher oder später eine Katze zulegen wollte, »aber die richtige«. Beim Gang die Käfige mit den schreienden Viechern entlang brach sie in Tränen aus. Wir flanierten durch das Foyer des ICC, über den Pariser Platz, soweit das diesseits der Begrenzungen möglich war, starrten auf die Quadriga, die nach Osten ausgerichtet vor sich hin rottete. Wir fuhren stundenlang mit dem Bus nach Gatow, um über die Felder zu spazieren, die sich dort fast bis zum Horizont erstreckten. Nach vier Jahren bekam ich zum ersten Mal einen Eindruck von der Stadt, in der ich lebte. Bis dahin hatte ich den Wedding nur selten verlassen, war nur ein paarmal am Ku’damm gewesen, weil es dort City Music und ZIP gab, wo ich Platten kaufte.
Mel besuchte mich einmal zu Hause, ich stellte ihr Jens und Ute vor und Frank, der zufällig auch daheim war. Sie blieb aus Höflichkeit zwei Stunden, und als ich sie verabschiedete, sagte sie: »Ich verstehe.«
    Am zweiten Samstag wollte Melanie mit mir tanzen gehen. Die zehn Minuten am Partyabend hatte ich gerade so überstanden; Engtanzen besteht in der Hauptsache darin, sich möglichst langsam im Kreis zu drehen, und nach Kuhles zweitem verkackten Übergang hatte ich einfach auf die Bühne zurückgemusst. Wie man sich zu NDW oder Depeche Mode bewegte, war mir völlig unklar.
    Die Dachluke hatte ihre besten Zeiten längst hinter sich, tatsächlich sollte es die Disco im Dachgeschoss eines Hauses am Mehringdamm nicht mehr lange geben, aber es war trotzdem voll, wobei ich sofort viele Gesichter aus meiner Schule wiedererkannte.
    »Was für ein schönes Paar«, sagte der hagere Typ an der Kasse.
    Ich hätte ihn küssen können.
»Es ist wie beim Liebemachen«, flüsterte Melanie, als sie mich
auf die Tanzfläche zog. »Achte einfach nur auf mich und auf nichts
Anderes.«
Im Treppenhaus und auf der Straße hatten die Jugendlichen Bier
aus Flaschen getrunken und an verdächtig aussehenden, selbstgedrehten Zigaretten gesogen, aber hier oben gab es

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