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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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nur Alkoholfreies und Musik. Wir tanzten, und schon beim zweiten Stück
fühlte es sich gut an. Ab dem vierten begann es mir sogar fast Spaß
zu machen. Irgendwann später standen wir an der Bar unter der
Dachschräge. Der Laden war schmuddelig, hatte aber etwas. Ich
lauschte in den Nebenraum, wo sich die Tanzfläche befand. »Das kann ich auch«, sagte ich zu ihr.
»Ich weiß«, antwortete sie und drückte meine Hand. Das machte mir so viel Mut, dass ich ihre Hand losließ, im Nebenraum die Tribüne zum Pult erklomm und mich neben den DJ
stellte.
»Hast du einen Musikwunsch?«, brüllte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Wollte nur mal gucken.« Der Mann war etwa doppelt so alt wie ich, sah aber sehr viel
älter aus. Zu seinen Füßen stand eine Kiste Bier.
»Ich mache auch Musik«, sagte ich, als er den Kopfhörer in den
Nacken zog.
»Ach. Und wo?«
»Vor allem auf Partys«, erklärte ich.
Er runzelte die Stirn. »Na, dann. Ich wollte sowieso gerade mal
pinkeln gehen. Da steht Rock, da steht Indie, da ist Punk, hier
liegt NDW. Bin gleich wieder da.«
Ein Anflug von Panik traf mich, als er einfach grinsend an mir
vorbeiging. Es lief »Sharp Dressed Man« von ZZ Top. Ich nickte mir selbst zu, ließ den Zeigefinger über die Plattenrückseiten knattern, griff nach »People Are People«. Das passte zwar nicht wirklich, aber ich hatte schon eine Idee für hinterher. Der Übergang flutschte gut, auf der Tanzfläche änderte sich nicht viel, die war
sowieso voll.
Eine halbe Stunde später sagte der Typ zu mir: »Du stiehlst mir
die Show. Gut gemacht.«
Ich kam hinter dem Pult vor, war nassgeschwitzt. Mel umarmte
mich.
»Aber du kannst gerne wiederkommen«, rief mir der DJ hinterher. Ich nickte. Es gab jetzt drei Dinge, die ich liebte: das Zauberwesen neben mir, meinen Freund Kuhle und das Plattenauflegen. Die mit Abstand besten drei Wochen meines Lebens endeten
abrupt. Ich hatte völlig verdrängt, dass die Schmölings nach Italien fahren wollten. Wir lagen in Melanies Bett, fast ineinander verdrillt, zwischen unsere Körper passte kein Plattencover. Ich hatte
gerade vorsichtig das Thema Verhütung angesprochen – immerhin hatten wir es schon einige Male getan. Kuhle hatte mich kurz
zuvor gefragt, wie wir es hielten. Aber Melanie bekam schon seit
ihrem sechzehnten Geburtstag die Pille. Ich war erleichtert, obwohl die Gefahr des Kinderkriegens eigentlich eine nur vage Bedrohung für mich darstellte; für mich war das etwas, das nur Erwachsenen passierte, und trotz des »Männer!«-Ausspruchs von
Melanie zählte ich mich längst nicht dazu.
Meine Erleichterung verschwand allerdings sofort, als Mel sagte:
»Wir fahren übermorgen.«
Ich verwandelte mich schlagartig wieder in Götterspeise. »Stimmt
ja«, sagte ich leise. Etwas krampfte sich zusammen. Es war unvorstellbar, Melanie über tausend Kilometer entfernt zu wissen. Und
auch noch bei Italienern .
    Der Nummer-eins-Hit in Deutschland an diesem Tag war »Two Tribes« von Frankie Goes To Hollywood.

15. Übergänge
    Es folgten die zwei schlimmsten Wochen meines Lebens. Ich hatte ja keine Ahnung, was Sehnsucht bedeutete, bis zu diesem Zeitpunkt. Stundenlang saß ich wie in Trance im Zimmer, wartete auf das Telefonklingeln. Weil es so teuer war, rief Melanie nur alle zwei Tage an. Ich forschte in ihrer Stimme nach Anzeichen dafür, dass Gefahr bestand. Die Gespräche bestanden letztlich nur aus zweieinhalb Sätzen, die wir so lange wiederholten, bis Melanies Telefongeld verbraucht war.
    »Ich vermisse dich.«
»Ich vermisse dich auch.«
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch. So sehr.«
Aber sofort, wenn sie aufgelegt hatte, begann es wieder, an mir
    zu nagen. Vor der Telefonzelle könnte ein junger, glutäugiger Italiener warten, von »Amore« sprechen und sie in eine düstere Trattoria zerren oder seinen Fiat Cinquecento.
    Ich jobbte immer noch bei Edeka, aber vermutlich zum letzten Mal während der Ferien, denn die Filiale lief schlecht, seit zwanzig Meter weiter ein großer Aldi eröffnet hatte. Ute hatte das Schminken wieder aufgegeben, und sie aß jetzt in der Pause Brote, hinten im Lagerraum, gemeinsam mit mir, schweigend an einem Resopaltisch. Der Marktleiter steckte mir kein Extrageld mehr zu.
    Immerhin war da Kuhle. Er hatte scheußliche drei Wochen auf einer dänischen Insel verbracht, wo es meistens geregnet hatte, weshalb er hauptsächlich in der Ferienwohnung gesessen und mit zwei »Kalles« Skat gespielt hatte. Kuhle freute sich sehr, mich zu sehen, und ich

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