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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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»High Energy« von Evelyn Thomas.

16. Wäsche
    Die letzte Ferienwoche verbrachte ich fast ohne Unterbrechung bei ihr, mit Ausnahme der wenigen Stunden, die wir in der Stadt unterwegs waren, in denen ich zu Hause ein paar frische Sachen holte oder die ich, auf Melanies Drängen hin, Kuhle widmete, der sich etwas gequält-verständnisvoll zeigte. Ich kündigte meinen Ferienjob, was der großhändige Marktleiter mit einem Schulterzucken quittierte.
    »Wir verstehen uns«, sagte ich zum Abschied.
    Als die Schule wieder begann, zeigten wir uns ganz selbstverständlich als Paar, kamen und gingen gemeinsam, trafen uns in den Pausen, in denen wir uns in einen ruhigeren Bereich des Schulhofs zurückzogen, um zu knutschen. Oder zu reden. Ich war Melanie gegenüber völlig offen – auf andere Art als bei Kuhle. Den sah ich immer seltener. Eher lustlos mischten wir ein paar Tapes. Gingen ein bisschen flippern. Wir sprachen nicht mehr über solche Sachen wie Wichsen. Er tat mir ein bisschen leid, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Der Erfahrungsgraben, der sich zwischen uns auftat und täglich vertiefte, veränderte einiges. Wir waren keine Brüder im Geiste mehr. Ich hatte den Schritt gemacht, er nicht.
    Wir bekamen weitere Angebote, Musik zu machen, aber da wir uns keine Anlage leisten konnten, mussten wir die ausschlagen. Ich half gelegentlich in der Dachluke aus, aber nie für mehr als zwei, drei Stunden.
    Dann fragte uns ausgerechnet Sabrina, ob wir bei der Oberstufenparty Musik machen würden. Es war Oktober geworden, für mich aber blieb es Sommer, denn ich hatte ja Mel.
    »Warum nicht?«, sagte Kuhle. Er wich Sabrinas Blick aus. Ende Oktober verschwand Mark. Es war fast ein bisschen erstaunlich, dass es überhaupt bemerkt wurde. Melanies Eltern hatten kein Problem damit, dass ich ab und zu bei ihr übernachtete. »Du hast Glück, dass ich Arzt bin und kein Priester, Frank N. Furter«, sagte Melanies Vater, den ich inzwischen Klaus nannte. Dabei lächelte er und drückte kräftig meine Schulter. »Ich gehe davon aus, dass du meine Tochter gut behandelst.«
    Ich nickte dankbar.
Dadurch war mein Zimmer zu Hause eine Art Durchgangslager geworden. Ich machte dort zwar noch meine Hausaufgaben, bereitete Referate vor, mischte immer häufiger die Tapes alleine ab, und zuweilen aß ich abends mit Jens und Ute, um ihnen einen Gefallen zu tun, wie ich dachte. Aber ich wachte nur noch selten dort auf, und wenn ich es tat, lag Mark nicht in seinem Bett. Er war vierzehn.
»Mark ist oft bei Freunden«, erklärte Ute schulterzuckend und legte frische Wäsche für ihn in den Schrank. Immerhin gab es noch etwas von ihm zu waschen. Ab und zu musste er also auftauchen.
Meine Pflegeeltern schienen seit einiger Zeit wie gelähmt, als wären sie Marionetten, die irgendwer vergessen hatte. Sie bewegten sich langsam, widerwillig, zeigten immer denselben Gesichtsausdruck. Nicht wie Spejbl und Hurvinek, sondern eher wie verstaubte Figuren aus einem sehr alten Kasperletheater. Jens schlief im Wohnzimmer, bei seinen Bierflaschen und den Wiederholungen alter Krimiserien. Sein roter Bart war von langen, grauen Strähnen durchsetzt.
Utes Gesichtsausdruck änderte sich, als sie zum zweiten Mal mit einem Stapel Frischwäsche ins Zimmer kam, der ausschließlich für mich bestimmt war. Ihr Gesicht hatte etwas Sorgenvolles, gleichzeitig Aussichtsloses.
»Weißt du, wo Mark sein könnte?«, fragte sie leise.
Ich konnte nur den Kopf schütteln.
Sie kam an den Schreibtisch und nahm meine Hand. Die Male, die sie das bisher getan hatte, konnte ich an den Fingern derselben abzählen. Es war ein unterdrücktes Zittern zu spüren, trotz oder vielleicht wegen der Kraftlosigkeit.
»Er nimmt Drogen«, sagte ich. Mir wurde klar, dass ich das bereits seit langem wusste.
Ute nickte langsam. »Ich weiß«, sagte sie.
Wir durchwühlten stumm seine Sachen, darunter ein paar sehr unsaubere Hausarbeiten, die aus dem letzten Jahr stammten und mit roten Korrekturanmerkungen übersät waren. Hinter seinen Schulbüchern fanden wir blaue Umschläge, die an Jens und Ute adressiert waren und von denen einer den Vorschlag enthielt, Mark an eine Sonderschule zu versetzen. Der Brief war ein halbes Jahr alt. Es war der neueste von allen. Ute öffnete die anderen Umschläge nicht. Sehr kleine Tränen liefen ihr über das Gesicht, als wüsste sie nicht genau, wie man weint.
Ich kam mir vor, als würden wir bereits eine Hinterlassenschaft durchwühlen, und ich musste kurz an

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