Geisterfahrer
mich natürlich auch, aber die vergangenen Wochen mit Melanie hatten etwas zwischen uns verändert. Eher halbherzig folgte mir Kuhle an die Orte, die sie mir gezeigt hatte, und ich gab diesen Versuch rasch wieder auf. Er ging mit in die Dachluke, verschwand aber nach einer Stunde einfach, ohne sich zu verabschieden.
»Hab mich nicht wohl gefühlt«, sagte er am nächsten Tag. Ich erzählte ihm nicht, dass ich anschließend fast eine Stunde lang aufgelegt hatte, während Mo, der DJ, mit einem ziemlich jungen Mädchen auf die Toilette verschwunden war.
Wir mischten Tapes. Wir aßen Fleischberge, die Mutter Kuhlmann servierte.
»Dieser junge Mann ist schwer verliebt«, sagte sie, während ich lustlos versuchte, den Einstieg in das gewaltige Schnitzel zu finden. Ich nickte. Oma Kuhlmann rief: »Fertig!« und machte sich daran, Schloss Sanssouci wieder abzutragen.
Kuhle war, nun, vielleicht nicht neidisch, aber es waren nicht nur Bewunderung und Freude, die er für mein Glück empfand. Ich sprach nicht viel von Melanie, aber wenn ich es tat, lag zuweilen etwas Bitteres in seinem Gesichtsausdruck.
»Ich werde nie so ein Mädchen abbekommen«, sagte er eines Tages.
Ich unterdrückte ein falsches »Warum nicht?«, sondern sah ihn nur an. In den so freundlichen, gewinnenden Augen glitzerte es.
Als ich an einem Samstagmorgen, zwei Wochen nach Melanies Abreise, hunderteinundsiebzig Stunden bevor ich sie endlich wiedersehen sollte, Nutella-Gläser ins Regal sortierte, von dem aus ich das Schaufenster beobachten konnte, sah ich Mark. Er stand da, in einem zu großen Bundeswehrparka bei fast dreißig Grad Hitze, schien die Plakate im Fenster zu studieren, aber als ich deutlicher hinsah, spürte ich, dass er nicht wirklich dort stand. Es war eher der Geist von Mark. Seine tief in den Höhlen liegenden Augen fixierten überhaupt nichts. Seine Haltung war wie die von jemandem, der auf seine Erschießung wartet. Er schien zu zittern. Ich hob die Hand, er musste mich eigentlich sehen, aber er reagierte nicht. Wie auf Rollen geschoben verschwand er zur Seite, rutschte einfach aus dem Blickfeld. Ich rannte zur Tür, aber er war nirgends mehr zu sehen.
Stattdessen umarmte mich jemand von hinten.
»Endlich habe ich dich wieder«, hauchte mir eine Stimme ins Ohr, und ich bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper. Mark vergaß ich sofort wieder.
»Ich habe es nicht mehr ausgehalten, und da hat mir mein Vater ein Bahnticket gekauft«, sagte sie, während wir händchenhaltend und dauerknutschend in Richtung ihrer Wohnung gingen. Ich trug noch meinen Edeka-Kittel, war einfach mit ihr gegangen, es gab nichts Wichtigeres als das, und völlig bedeutungslos war eine Edeka-Filiale in der Stromstraße.
Am Montag nach Melanies Abreise hatte ich meinen sechzehnten Geburtstag gefeiert, Jens und Ute hatten tatsächlich versucht, ein wenig Festlichkeit aufkommen zu lassen, mit Geburtstagstorte und Sekt zum Anstoßen und einem Hundertmarkschein im Umschlag als Geschenk. Frank war kurz erschienen und hatte mir die Hand geschüttelt, dabei mit Grabesstimme »Alles Gute« geflüstert. Am Abend traf ich mich mit Kuhle, wir gingen flippern, und als ich meinen »Behelfsmäßigen Personalausweis«, der mir das vollendete sechzehnte Lebensjahr attestierte, an der Theke vorzeigte, zapfte man uns tatsächlich zwei Bier, ohne nach Kuhles Ausweis zu fragen. Ich fand, dass es ziemlich bitter schmeckte, aber nach dem dritten ging es. Wir verfehlten zwar häufiger den silbernen Ball, fühlten uns aber dennoch wie Flippergötter. Außerdem war ich sechzehn. Ich hatte keine ältere Freundin mehr. Ich war in eine Lebensphase eingetreten, in der man Entscheidungen auch alleine treffen konnte.
Mel und ich liebten uns, einmal, was wir unter Lachtränen aufgaben, in der Badewanne und auf dem dicken, ovalen Teppich, der im Wohnzimmer der Schmölings vor dem Fernseher lag. »Du könntest hier übernachten«, schlug sie vor. Was für ein Gedanke! Ich rief zu Hause an, Jens ging ans Telefon.
»Ist es okay, wenn ich bei meiner Freundin übernachte?«, fragte ich. Jens schwieg einen Moment, wahrscheinlich war er überrascht, derlei überhaupt noch gefragt zu werden, vielleicht erwog er aber auch, »Das ist illegal« zu antworten.
Stattdessen sagte er: »Okay.« Und legte auf.
Wenn ich gedacht hatte, die drei Wochen vor Mels Urlaub wären nicht zu übertreffen gewesen, war ich damit dem Trugschluss meines Lebens aufgesessen.
Der Nummer-eins-Hit in Deutschland an diesem Tag war
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