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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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meine Eltern denken. Es gab ein Tagebuch, das hatte er vor zwei Jahren geschenkt bekommen; es enthielt nur ein einziges Wort, in Großbuchstaben, auf der ersten Seite, etwas krakelig, als würde der Verfasser nicht richtig schreiben können: »WIESO?«
Wir fanden ein paar Zettel mit Telefonnummern, vier oder fünf. Ute ging in den Flur, zog wie aus alter Gewohnheit die inzwischen hoffnungslos verknäulte Schnur in die Küche und schloss die Tür hinter sich. Ich ging ihr nach, blieb im Flur stehen, und nach ein paar Minuten hörte ich lautes, hemmungsloses Schluchzen.
Als Jens kam, saßen wir im Wohnzimmer, Ute hielt noch immer meine Hand. Sie sah nur kurz auf, deshalb sagte ich: »Mark ist verschwunden.«
Jens öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Er blieb in der Tür stehen, skulpturenhaft, das Denkmal eines gescheiterten Vaters, eines gescheiterten Menschen. Dann ging ein Rütteln durch seinen Körper. Er sank zu Boden, es schüttelte ihn, und dann sah ich Jens zum ersten Mal weinen. Es war kein Anblick, den ich gern erlebte.
Weil die beiden unfähig schienen, etwas zu unternehmen, rief ich Kuhle an. Zehn Minuten später wuchtete sich Mama Kuhlmann auf das Sofa, und obwohl sich die beiden Frauen nicht kannten, fiel ihr Ute um den Hals. Sie war wie eine vom Sturm gefällte Birke, gegen einen Berg gelehnt. Mama Kuhlmann strich ihr über die Haare, während Ute so laut weinte, dass das Geräusch schmerzte.
»Sie müssen die Polizei informieren«, sagte Kuhle zu Jens.
Jens nickte apathisch, ging zum Telefon. Er sprach leise, dann kam er ins Wohnzimmer zurück, öffnete die Türen der steinalten Schrankwand, die mit inzwischen blind gewordenem Kirschholzfurnier bezogen war. Er kramte in einigen Kisten, ließ Papiere und Bilder achtlos auf den Boden fallen. Das neueste Foto, das er von Mark fand, war fünf Jahre alt. Mit hängenden Schultern verließ Jens die Wohnung, um auf der Wache eine Vermisstenanzeige aufzugeben.
»Wir sollten die Krankenhäuser anrufen«, schlug Kuhle vor. Ute machte nicht den Eindruck, in den nächsten Stunden zu etwas anderem als hemmungslosem Heulen fähig zu sein. Mama Kuhlmann wedelte uns mit der Hand aus der Tür. Kuhle schloss sie leise hinter sich, aber Ute war trotzdem zu hören.
»Melanies Vater ist Arzt«, sagte ich. »Er wird wissen, wen man bei den Krankenhäusern ansprechen muss.«
Kuhle nickte.
Susanne kam ans Telefon, sagte: »Ich rufe Melly«, als ich mich meldete, aber ich unterbrach sie. »Ist Klaus da?«
»Ja. Was ist denn?«
»Hier ist etwas passiert. Mein Pflegebruder ist verschwunden.«
Klaus kam an den Apparat, hörte mir kurz zu, ließ sich Marks Daten geben, versprach dann, sich um die Sache zu kümmern. Zehn Minuten später klingelte das Telefon, zeitgleich läutete es an der Tür. Weil Kuhle länger brauchen würde, ging ich nach unten, Kuhle nahm den Hörer ab.
»Nein, ich bin ein Freund von Tim«, hörte ich ihn sagen.
Mel war vor der Tür, drückte meine Hand.
»Kann ich irgendwas tun?«, fragte sie.
»Das ist lieb von dir«, sagte ich und war ehrlich gerührt. »Aber ich glaube, das hat keinen Sinn.«
Sie küsste mich, ging rückwärts, winkte noch einmal zaghaft.
»In den Krankenhäusern ist er nicht«, erklärte Kuhle, als ich schnaufend wieder oben ankam. »Netter Mann, der Vater von Melanie.«
Ich nickte, Jens kam nach Hause. Er zuckte nur kurz die Schultern, sah mich aber nicht dabei an, ging ins Wohnzimmer.
Zwei Tage später zog Jens aus. Still, ohne Diskussion, wie jemand, der ein Hotelzimmer räumt. Ute lag im Bett, seit zwei Tagen ununterbrochen, ich sammelte die Bilder und Papiere ein, die auf dem Wohnzimmerfußboden lagen, und stopfte sie in die Kiste zurück. Kuhles Mama kam ab und zu, brachte gebratenes Fleisch in Tupperdosen, das Ute nicht anrührte.
Mark wurde niemals gefunden.
    Der Nummer-eins-Hit in Deutschland an diesem Tag war »Reach Out« von Giorgio Moroder.

17. Verrat
    Sie hatten das Big Apple gemietet, eine Diskothek an der Bundesallee, die zuweilen ziemlich angesagt war und fast in Ku’dammNähe lag. Die Party fand Mitte November statt, für Sabrinas Jahrgang war es eine Art vorgezogene Abschlussparty.
    Es war kalt, und es regnete. »Ich hasse das«, sagte Kuhle, als wir im knackevollen, feucht-miefigen Bus standen, zwischen uns auf dem Boden eine Pappkiste mit Platten. Es war nicht nötig, unseren kompletten Bestand mitzubringen; zu dieser Zeit hatten die Diskotheken noch eigene Schallarchive, wahrscheinlich bräuchten wir

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