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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Nachmittag, stieß mich sanft weg, sagte: »Du musst noch arbeiten.« Dann verschwand sie in der Menge.
Es lief ganz gut, aber bei weitem nicht so gut wie im Sommer bei der Schülerparty. Kuhle reichte mir gelegentlich Songs, die wirklich nicht passten, und dann schüttelte ich den Kopf, griff fast willkürlich ins Regal und legte etwas Anderes auf.
»Ich geh mal kurz Luft schnappen«, sagte er, da war es schon nach Mitternacht.
»Es regnet«, sagte ich.
»Scheißegal«, nuschelte er. Wir hatten inzwischen fünf Bier gehabt, jeder von uns, Rekord bis zu diesem Tag.
Melanie tauchte gelegentlich in meinem Blickfeld auf, tanzte, vermutlich, hoffentlich alleine, aber es war schwer auszumachen, welche Paarungen es auf dem inzwischen recht wuseligen Dancefloor gab, und wenn ich von meinem Plattenkoffer aufblickte, war sie wieder irgendwohin verschwunden, was mir ein leichtes Stechen im Magenbereich verursachte. Ich kämpfte gegen die schmalen drei bis vier Minuten, die mir ein Titel ließ, um einen passenden Anschluss zu finden, und versuchte, an nichts zu denken. Und dem Gefühl, dass hier irgendwas ganz und gar nicht stimmte, nicht nachzugeben.
Kuhle kam nicht wieder. Ich musste pinkeln. Ringo stand neben dem Pult, hielt ein Glas Cola-Rum und zog an einer zerdrückten Zigarette. Ich cuete eine Platte und fragte ihn, ob er einen Übergang hinbekäme.
»Is kein Problem«, sagte er.
Ich rannte zu den Klos, beeilte mich, weil ich wenig Vertrauen in den zugekifften Techniker hatte. Als ich gerade in den Gang einbog, sah ich im Augenwinkel etwas, das mir die Knie wegschlug. An einem Tresen rechts von mir saß Melanie. Sie saß dort nicht allein. Den Hocker ihr gegenüber okkupierte ein junger Mann, fünf oder sechs Jahre älter als ich, den ich vom Sehen kannte, wie ich meinte, und zwar von den neuen Fotos in Mels Zimmer. So allerdings hatte ich ihn dort nicht gesehen. Seine Hände lagen auf Melanies Rücken, wie ihre auf seinem, und ihre Münder hingen aufeinander.
In diesem Moment ging die Musik aus und das Licht an. Der Laden war plötzlich hell, und Melanie rückte von dem Typen ab, schaute sich um, wie alle anderen auch, die herausfinden wollten, was das zu bedeuten hatte. Dabei sah sie mich. Ich weiß nicht, welchen Gesichtsausdruck ich machte, aber Melanie lächelte verzerrt.
Ich brach zusammen, fühlte mich, als hätte mir jemand in den Hals gegriffen, mit seiner Hand die Lungenwand durchstoßen und auf dem gleichen Weg das Herz herausgezogen. Während mir rot vor Augen wurde, hoffte etwas in mir, dass es vielleicht eine Erklärung gab. Sie hatte eine Wette verloren. Das war nicht Melanie, sondern eine Doppelgängerin. Der Typ war ihr lang vermisster Bruder. Er zielte neben dem Oberschenkel mit einer Waffe auf sie. Er hatte ihr Drogen in den Drink gekippt. Jemand filmte das heimlich, um sich über mich lustig zu machen.
Aber ich wusste natürlich, dass das nicht die Wahrheit war.
Als ich die Augen öffnete, sah ich verschwommen ihr Gesicht vor meinem, fühlte eine Hand, die mich irgendwo berührte.
»Tim.«
»Verpiss dich!«, brüllte ich. »Hau ab!« Es ging in ein Schluchzen über, doch das war mir egal.
»Tim.«
»Hau endlich ab. Hau ab!«, kreischte ich.
Sie ging. Sie erhob sich, sagte noch sehr leise etwas, das wie »Vielleicht ist es besser so, wenn du es auf diese Art erfährst« klang, drehte sich um und lief einfach hinaus. Ich sah ihr nicht nach; ich konnte vor Tränen sowieso nichts mehr sehen, blieb sitzen, heulte und heulte. Irgendwann kam ein Mitschüler zu mir, den ich nur durch einen Nebel wahrnahm. Er meinte, es wäre hilfreich, wenn ich mal zum Pult ginge. Ich rappelte mich auf, schmierte Rotz und Tränen in meine Jackettärmel und stolperte wie ein Zombie zur Disco.
Ein, wie es hieß, sehr kräftiger Mann hatte Sabrina, die in einem Hauseingang nur ein paar Schritte weiter gestanden hatte, um eine Zigarette zu rauchen, überwältigt, ihr den eigenen Pullover über den Kopf gezogen und dann versucht, sie zu vergewaltigen. Offenbar war er dabei gestört worden und geflüchtet, und der Türsteher des Ladens hatte einen nicht sehr großen, aber sehr dicken Mann weglaufen sehen. Sabrina hatte den Täter nicht sehen können, aber auch gemeint, es sei ein bulliger Typ gewesen. Sehr dicke Arme.
Das erklärte mir ein Polizist, der am Pult auf mich gewartet hatte. Ich saß mittlerweile auf einer Art Treppenstufe – ein Häufchen Elend. Die Botschaft von dem, was ich vorhin gesehen hatte, war zwar noch nicht

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