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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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ganz in meinem Gehirn angekommen, aber der Körper reagierte.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte der Polizist.
Ich konnte nur den Kopf schütteln.
»Haben Sie Drogen genommen?«
Ich schüttelte weiter den Kopf. Ich konnte an nichts anderes denken als an Mel, und das war so schmerzhaft, als würde mir jemand mit einem stumpfen Messer in den Augen herumbohren. Ich sah nur, wie dieser Typ sie geküsst hatte, und ob da ein Polizist vor mir saß oder Fidel Castro, das interessierte mich nicht für einen Sechser.
»Michael Kuhlmann«, hörte ich.
Ganz automatisch nickte ich, sagte: »Kuhle.«
Durch eine Tränenwand versuchte ich, sein Gesicht zu fokussieren. Da war irgendwo ein Bart, und ich erkannte rote Haare. Der Mann hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Jens, dem Jens von vor zehn Jahren.
»… gegen halb eins«, hörte ich.
»Wo war Ihr Klassenkamerad Michael Kuhlmann gegen halb eins?«, wiederholte der Mann.
Das spielte doch alles überhaupt keine Rolle. Melanie hatte einen anderen geküsst, einen Älteren, vor meinen Augen, und ganz sicher war es nicht das erste Mal gewesen und vermutlich auch nicht das Einzige, was sie mit ihm getan hatte während der vergangenen Wochen. Vielleicht ist es besser so. Was gab es da noch für relevante Fragen? Die Welt ging gerade für mich unter.
»Draußen«, antwortete ich nuschelnd. In diesem Moment bekam ich eine Ahnung davon, worum es überhaupt ging. Die Worte »Sabrina«, »Vergewaltigung«, »kräftiger Mann« erreichten mein Hirn, und ich wandte meine letzte Kraft auf, um den Polizisten anzusehen.
»Sie sagen, dass Ihr Klassenkamerad Michael Kuhlmann draußen war, zwischen Mitternacht und ungefähr halb eins?«
»Es hat geregnet«, erklärte ich.
»Das stimmt«, sagte der Polizist.
Vielleicht geschah gerade etwas Wichtiges. Natürlich geschah gerade etwas Wichtiges. Ich versuchte, meine Gedanken auf die Fragen des Polizisten zu konzentrieren.
»Kuhle geht nicht nach draußen, wenn es regnet«, sagte ich.
»Kuhle ist Michael Kuhlmann?«, fragte der Polizist.
Ich nickte langsam.
»Und er war draußen?«
Ich wusste das nicht. Kuhle hatte gesagt, er wolle frische Luft schnappen, irgendwas in der Art. Er hatte diesen Joint geraucht. Wer weiß. Vielleicht war er unter Dope nicht mehr allergisch gegen Wasser. Ich bekam Angst. Das ist illegal. Wenn ich etwas Falsches sagen würde, vielleicht würde man mich anzeigen, wegen Meineid und all diesen Dingen. Und außerdem. Die Welt ging unter.
Also nickte ich.
Gegen fünf oder sechs oder vielleicht auch später kam ich nach Hause, ich hatte Bier getrunken, viel Bier, in einer Gardinenkneipe nicht weit vom Big Apple. Irgendwann hatte mich der Wirt in ein Taxi gesetzt.
Im Hausflur quälte ich den Schlüssel in den Briefkasten, in der völlig absurden Hoffnung, da wäre eine Nachricht von Mel, die alles aufklärte, das ganze Missverständnis, das keines war, wie etwas in mir mit Gewissheit wusste. Natürlich war da kein Zettel. Ich ließ den Briefkasten offen, knickte ein, als ich die erste Stufe nach oben betrat. Mir wurde schlagartig sehr kalt, Übelkeit stieg in mir auf, und ich erbrach mich auf das Linoleum der Treppe. Am nächsten Tag überredete ich Ute, die ohnehin zu keinem Widerstand fähig war, mir eine kleine, billige Wohnung zu mieten. Mit sehr viel Glück fand ich noch in der gleichen Woche ein heruntergekommenes Zimmer mit Ofenheizung und Klo in der Küchenkammer. Ich packte meine paar Sachen und zog einfach aus. Den Rest meiner Schulzeit sollte ich an einem Neuköllner Gymnasium ableisten.
Ich sah Michael Kuhlmann und Melanie Schmöling in diesem Jahrtausend nicht mehr wieder.
    Der Nummer-eins-Hit in Deutschland am Tag der Party im Big Apple war »I Just Called To Say I Love You« von Stevie Wonder.

Zwei 1989
    Die Versöhnungskirche im sogenannten Niemandsland jenseits der Mauer an der Bernauer Straße wurde im Jahr 1985 abgerissen.
1. Agenten
    »Und?«, fragte Neuner, wobei er einen Bandenstoß auf die Sieben ansetzte. Mit etwas Glück würde er sie an der kurzen Bande entlang auf die Neun schieben und diese einlochen, wodurch er das Spiel gewonnen hätte. Neunerball war Pool mit neun von fünfzehn Bällen, die in Reihenfolge zu versenken waren, wobei jeder Spieler immer die Kugel mit dem niedrigsten Wert spielen musste. Das Ziel bestand ausschließlich darin, die Neun einzulochen, und es war belanglos, wie viele Bälle man zuvor versenkt hatte. Eine Serie von acht Kugeln in Folge bedeutete nichts, wenn man die Neun

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