Geisterfahrer
Licht, dem Muff eines solchen Ladens, der seine edelsten Momente erlebte, wenn sich ein besoffener Lokalpolitiker hereinverirrte, ein paar Nachwuchsunionisten oder -sozialisten im Schlepptau, die fassungslos auf die Monitore starrten, während der Abgeordnete oder Stadtrat im Keller gegen die eigene Mittelmäßigkeit anrammelte. Die Mädchen liebten das, wenn jemand kam, den man vielleicht aus der Zeitung kannte. Sie machten dann Show. Das waren ihre großen Momente, wenn sie auf der kleinen, runden Bühne im Schein der fahlen Spots so tun durften, als ob.
»Das ist ein Spiel für dich«, sagte Geraldine. Sie zog die Vokale ein bisschen in die Länge, verzichtete aber ansonsten auf Akzentimitate.
»Was?«
»Das hier. Ein Spiel.«
Ich sah sie an.
»Wovon redest du?«, fragte ich.
»Mit Jenny. Du weißt doch ganz genau, was ich meine.« Ich zog eine Zigarette aus der Schachtel in meiner Jacketttasche,
griff über den Tresen nach Marlas vergoldetem Dupont-Feuerzeug, nahm einen Zug und hielt einen Moment lang den Atem an. Nirwana. Der Zustand völliger geistiger Freiheit. Freiheit von allem.
»Ich spiele nicht, Simone «, sagte ich, den Realnamen französisch aussprechend. »Ich zahle wie jeder andere Gast.«
»Ach. Wirklich?« Sie lächelte. Für eine Obstverkäuferin in einem bretonischen Dorf wäre sie die Idealbesetzung gewesen. Eine bäurische, ein bisschen verschmitzte Frau jenseits der Fünfundfünfzig. Sie pflegte sich verhältnismäßig gut, aber Geraldine war dicklich, fast schwammig, und wenn man sie von nahem betrachtete, wie ich in diesem Moment, hatte sie zugleich etwas Ausgezehrtes. Nicht körperlich, sondern psychisch. Wie jemand, der nach zwanzig Jahren aus der Justizvollzugsanstalt entlassen wird. Geraldines Zukunft war begrenzt und vorhersehbar, und sie wusste das selbst am allerbesten. Allerdings hatte sie mit Sicherheit genug auf der hohen Kante, um sich nicht allzu sehr davor zu fürchten. Nur die Einsamkeit, dagegen würde die Kohle auch nicht helfen. Sie nahm eine von Marlas Zigaretten und ließ sich Feuer von mir geben. Ich drehte mich kurz um, Marla saß auch am Griechentisch, auf dem inzwischen eine große Flasche Champagner stand, vermutlich sogar echter. Nachsorge . Wenn die Gäste (keine der Huren nannte sie je Freier ) nach dem Vollzug ein schlechtes Gewissen hatten oder wenig Selbstachtung oder beides, ließen sie sich bequem ausnehmen. Nur wenige von ihnen brachten den Mut auf, einfach aus dem Laden zu marschieren und die Restkohle in einer richtigen Kneipe zu versaufen. Wenn die Mädchen beharrlich blieben, würden die Herren zum Schluss ihre letzten Pfennige zusammenkratzen, um noch mehr Apfelmost zu spendieren.
Geraldine hatte etwas gesagt, aber ich hatte nicht zugehört.
»Bitte?«
»Sie haben auch Herzen. Die Huren«, wiederholte sie. Ich nickte. »Natürlich.«
»Das ist etwas ganz Besonderes, wie sie dich …« Sie zog die Stirn kraus. »… umwirbt. Du darfst damit nicht einfach spielen.«
»Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Du siehst sie nicht als echten Menschen, als Frau mit Gefühlen.«
Ich hätte am liebsten genickt und »Deshalb bin ich hier« geantwortet, aber warum hätte ich das tun sollen? Da saß dieses abgetakelte Weib neben mir, stocherte in mir herum, bohrte nach Antworten auf Fragen, die keine für mich waren.
»Weißt du, Simone, hör doch einfach damit auf, dir meinen Kopf zu machen.«
Sie nickte langsam, aber eigentlich war es ein Kopfschütteln. »Es wird Ärger geben«, orakelte sie, weiter schüttelnickend. »Mag sein, dass du einfach weglaufen kannst, wenn es so weit ist. Aber sei dir da nicht zu sicher.«
Dann stand sie auf und setzte sich in Warteposition neben die Eingangstür.
Der Nummer-eins-Hit in Deutschland an diesem Tag war »Something’s Gotten Hold Of My Heart« von Marc Almond und Gene Pitney.
4. Phantomschmerz
Ein Klirren, das Geräusch von Metall auf Porzellan, weckte mich. Ich nahm Kaffeeduft wahr, fühlte ziemlich kuschelige Bettwäsche, und damit gelangte ich zu der Feststellung, dass ich mich, verflucht noch eins , nicht zu Hause befand. Neben mir, auf der Kante einer Schlafcouch, saß eine Frau, die mich anstrahlte, jetzt, da ich die Augen öffnete. Ein kurzer Systemcheck ergab den Status »Durchaus okay für den Morgen nach einer solchen Nacht«, aber das betraf nur meinen Körper. Die Situation war alles andere als okay.
Ich hatte bei einer Frau übernachtet.
»Guten Morgen«, sagte sie, grinste und ergänzte: »Oder
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