Geisterfahrer
oder gesehen seit seinem Auszug. Irgendwie hatte ich angenommen, dass er nach Hannover zurückgekehrt war, um wieder Streife zu gehen, den Rasen vor seiner Laube zu stutzen, ein anderes Auto zu pflegen, als Ersatz für all das, was er seiner Familie vorenthielt, nie zu bieten in der Lage gewesen war.
Ein Trugschluss.
Jens war nicht versetzt worden, man hatte ihn geschasst. In der JVA Moabit war er nicht mehr als ein besserer Hausmeister gewesen, beseelt von der Hoffnung, man würde sein Potential erkennen, irgendwann. Das geschah nie, denn er hatte keins. Kurz nach Marks Verschwinden hatte er den Job verloren, war lange arbeitslos gewesen, schließlich in einer Sicherheitsfirma gelandet, von denen es noch nicht so viele gab. Hausmeister mit Taschenlampe. Er hatte leere Fabrikgebäude bewacht, nachts, war über öde Firmengelände gewandert und hatte in dunkle Ecken geleuchtet. Zu finden, zu bewachen, anzuzeigen gab es nichts. Es gab überhaupt nichts mehr in seinem Leben, nur eine apathische Exfrau, die von Sendebeginn bis Schluss vor dem Fernseher lag, rauchte, Nescafé trank und ihn nicht mehr sehen wollte, einen verbliebenen Sohn, der hilflos lächelnd vor seinem Vater in dessen Apartment in der Kurfürstenstraße saß – derjenigen am Arsch der Potsdamer, gleich bei den dick geschminkten Mittagspausennutten –, sich Geschichten aus der Vergangenheit anhörte und das sichere Gefühl zu verdrängen versuchte, dass hier nichts mehr zu retten war. Jens vegetierte nur noch, trauerte seinem Das-ist-illegal-Wertgefüge nach, dem anderen Sohn und der verkackten Ehe. Als die Schmerzgrenze überschritten war, trank er eine Flasche Wodka, legte sich in die mit lauwarmem Wasser gefüllte Badewanne und schnitt sich großflächig die Unterarme auf. Sein Nachbar fand ihn zwei Wochen später.
Zwei Wochen später.
Frank erzählte mir all das, als wir uns am Abend nach seinem Anruf im Schnipanzel trafen, meiner Stammkneipe. Wir saßen in einer ruhigen Ecke, hinter uns hingen flächig-dekorative, nichtssagende Ölbilder des Malers, den Dieter, der Wirt, gerade präsentierte. Das Schnipanzel gab sich als Künstlerkneipe, Dieter vertickerte überteuerte, wertlose Gemälde an ein seit Ewigkeiten treues Stammpublikum: Menschen aus dem Baugewerbe, Börsengewinnler und Immobilienmakler. Ab und zu kam ein echter Künstler, irgendein alternder Sänger, der in den Siebzigern einen Hit gehabt hatte, irgendeine Schauspielerin, die inzwischen tingelte, Leute, die ihren verblassenden Ruhm bis zum Ende auszukosten versuchten, die es mochten, vom dicklichen, seine spärlichen Haare quer über die Dreiviertelglatze kämmenden Wirt mit großem Tata begrüßt zu werden und einen Cocktail aufs Haus trinken zu können. Oder zwei oder zwölf. Nebst der legendären Schnipanzel-Linsensuppe aus der gusseisernen Gulaschkanone.
Auf der Straße hätte ich Frank nicht wiedererkannt. Er war kein Punker mehr, was mich nicht wirklich wunderte, obwohl ich selbst nie der Versuchung erlegen war, mich einer sich uniformierenden Gruppe anzuschließen. Frank hatte einen U-Turn hingelegt. Er trug einen teuren, aber unaufdringlichen grauen Anzug, rauchte Davidoff-Zigaretten, die zu sechs Mark aus der im Profil achteckigen Schachtel, und er roch nach »Relax«, dem etwas zu schweren Parfum, auch von Davidoff. Er sah mich sofort, als er hereinkam, aber ich blinzelte noch immer unsicher, während er vor mir saß, das gequälte Lächeln zu halten versuchte und am Chivas nippte.
»Lange nicht gesehen«, sagte er.
Ich nickte nur.
»Was machst du?«
Ich nahm einen Schluck von meinem Veltins und überlegte, was ich antworten könnte.
»Ich studiere, Informatik.«
»Das hat Zukunft«, sagte Frank.
Das hatte ich auch mal gedacht, aber inzwischen glaubte ich das nicht mehr, nicht für mich. Zukunft ist ein Begriff, der generell überschätzt wird. Und meistens ist sie ganz anders, als man sich das vorgestellt hat. Nein, eigentlich immer .
»Ich lege auf in einigen Läden.«
»Immer noch?«
»Ich bin einundzwanzig«, sagte ich. Frank nickte.
»Und du?«
»Ich habe mein Abi nachgeholt, eine Ausbildung gemacht, Bankkaufmann. Wenn alles gutgeht, übernehme ich die Filiale in drei oder vier Jahren.«
»Glückwunsch.« Das meinte ich ehrlich. Er sah nicht aus, als würde er vor Glück überlaufen, was angesichts der Situation auch nicht zu erwarten war, aber er machte einen ausgeglichenen Eindruck. Jemand, der sich arrangiert hat und das Beste daraus macht.
»Und die Liebe?«, fragte
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