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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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einer Rolle Küchentücher, einem Eimer und einem Glas Wasser zurück. Ich nahm einen Schluck Wasser, ohne Bine anzusehen, spuckte in den Eimer und erhob mich endlich. So mussten sich ausgemusterte Satelliten fühlen, wenn sie auf die Erde stürzen. Mir fehlte jedes Bezugssystem, aber etwas in mir signalisierte, dass ich es, wenn überhaupt, nur außerhalb dieser Räume wiederfinden würde. Ich kletterte in meine Klamotten, die sauber und in der richtigen Reihenfolge angeordnet auf der Lehne des Schreibtischstuhls hingen, murmelte eine Entschuldigung in Richtung der auf dem Boden knienden Frau, die nicht bemerkt hatte, dass ich mich anzog, und suchte nach dem Ausgang. Türen führten in rosagekachelte Bäder, nach Räucherkerzen riechende, studentengemütliche Küchen und schließlich auch nach draußen. Ich stand in einem Treppenhaus und atmete durch. Hinter mir hörte ich jemanden rennen, also tat ich es auch. Als ich ein Stockwerk tiefer war, hatte Bine die Tür erreicht.
»Sehen wir uns? Gibst du mir deine Telefonnummer?«, rief sie. Ich ignorierte es und den noch immer heftigen Brechreiz, klammerte mich ans Geländer und kletterte das Treppenhaus hinab in die Freiheit; mit jedem Schritt wurde es leichter, mit jeder Stufe nahm das Rumoren in meinen Eingeweiden ab, die eiskalte Januarluft vor der Tür verscheuchte es ganz und gar, fast schlagartig. Glücklicherweise befand sich direkt gegenüber ein Taxistand, und als der Fahrer endlich ausgeschert war und gewendet hatte, um mich von hier fortzubringen, kam Bine aus der Haustür, einen Knäuel Küchentücher in der Hand, und sah sich suchend um. Ich schob mich fast in den Fußraum, und der Fahrer gab glücklicherweise sofort Gas.
    Der Nummer-eins-Hit in Deutschland an diesem Tag war »Don’t Worry, Be Happy« von Bobby McFerrin.

5. Präfixe
    Jemand tippte mir auf die Schulter, und ich erwachte aus der Narkose.
    »Geht es Ihnen gut?«, fragte eine kleine, dicke Frau Anfang vierzig, mit kreisrundem, freundlichen Gesicht; ihr weißer Kittel war zwei Nummern zu groß, ihre Oberlippe zierte ein leichter Damenbart.
    Ich starrte sie an und dann wieder die Packung, die ich vorher fixiert hatte, bis zur Selbsthypnose. Melitta . Filtertüten. Ich hatte nur die ersten drei Buchstaben angesehen, und irgendein Bestandteil meines inneren Räderwerks hatte die Verbindung zu einem anderen verloren. Völliger Leerlauf, Motorenleistung gut, aber kein Kontakt zum Getriebe. Das passierte immer wieder, immer und immer wieder. Ich geriet in Trance, verlor mich, wenn ich irgendwo diese Silbe las, auch mitten in Wörtern, meistens aber, wenn sie den Anfang bildeten. Das Wort Melancholie ließ mich wegtreten. Irgendeine Platte, die ich mir gekauft hatte, war in Melbourne aufgenommen worden. Ich hatte das Cover stundenlang angestarrt, dem eigenen Gefühl nach, bis mich ein Anruf aus der Stasis riss.
    »Alles okay«, sagte ich schwach und schob meinen fast leeren Einkaufswagen in Richtung Kasse. Die freundliche Verkäuferin ging vor mir her und drehte sich alle zwei Schritte um, mit einem prüfenden, besorgten Gesichtsausdruck. Ich schenkte ihr ein freundliches Lächeln beim Rausgehen, ließ sie mit ihrem verwirrtfragenden Blick alleine.
    Zu Hause blinkte die Funzel des Anrufbeantworters. Ich hielt das für eine der größten Erfindungen überhaupt – Menschen das Gefühl zu geben, für sie erreichbar zu sein, ohne tatsächlich mit ihnen reden zu müssen. Selektiver Rückruf im Moment der besten dafür möglichen Stimmung. Oder keiner, mit späterem Rückzug auf einen vermeintlichen Technikfehler. »Echt, du hast angerufen? Komisch, meine Maschine hat nichts aufgezeichnet. Na, hat ja dann doch noch geklappt.« Frauen gab ich meine Nummer allerdings nie. Der Anrufbeantworter war mein Schutzwall nach draußen, ich nahm selten das Telefon ab, ohne vorher angehört zu haben, wer mich zu erreichen versuchte. Die, die mich kannten, wussten das.
    »Papa ist tot.« Eine Pause, die mir Zeit gab, die Stimme einzuordnen, trotz des leidenden, sich um Fassung bemühenden Tons. Frank, mein Pflegebruder. »Jens.« Wieder eine Pause. »Er hat sich das Leben genommen.« Eine sehr lange Pause, die genügte, um das visuelle Archiv abzurufen, Bilder von Streifengängen, dem kaputten BMW, der Fahrt durch die Zone, dem Gesicht von Jens, als wir ihn in der JVA Hannover besucht hatten. »Hier ist Frank. Ruf mich bitte zurück!« Eine Telefonnummer.
    Und dann Leere. Jens. Ich hatte nichts mehr von ihm gehört

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