Geisterfahrer
Hochzeit, unmittelbar nach dem Einzug in das Reihenhaus. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nur sehr selten ferngesehen, und dieses wenige hatte ich als dumm, peinlich und grenzenlos langweilig empfunden. Und das zu einem Zeitpunkt, als sich das Privatfernsehen gerade in der Embryonalphase befand. Jetzt sehen wir meistens fern, wenn wir zu Hause sind. Nein, nicht meistens. Wir tun nichts Anderes.
»Jeder Mensch braucht eine Fernsehzeitung«, hatte sie geantwortet. »Sonst weiß man doch nicht, was im Fernsehen läuft.«
»Da gibt es einen schönen Film auf ProSieben«, sagt sie jetzt und hält die Zeitschrift in meine Richtung, ohne dass ich die geringste Chance hätte, zu erkennen, was sie meint. »Mit Adam Sandler. Der ist lustig.«
Ich bringe den Namen nicht unter und versuche, entgegen meinem Desinteresse, auf den in 6-Punkt-Schrift gedruckten Text zu fokussieren, aber Gisela legt das Magazin einfach wieder auf den schrecklichen Rauchglastisch, ein Geschenk ihrer Eltern, wie auch das Sofa – beide Möbelstücke sind im Haus von Wolfgang und Trudchen ebenfalls zu finden. Insgesamt beträgt die Anzahl der Einrichtungsgegenstände, die in beiden Häusern stehen, nach meiner letzten Zählung achtundvierzig.
»Schön«, sage ich. Es ist mir egal.
»Hast du den Rasensprenger abgestellt?«, fragt sie plötzlich, während ich noch am Überlegen bin, ob die komische Lampe auf dem Fernseher auch von Giselas Eltern stammt.
»Rasensprenger?«, frage ich reflexartig zurück.
Ich drehe mich zur Seite, um durch das große Terrassenfenster hinter dem Sofa zu schauen, auf dem Gisela wie eine alternde Kleopatra liegt. Der breite Fächer des Bewässerungsgerätes kehrt soeben um, wobei die Enden der Wasserstrahlen pittoreske Drehungen vollführen. Ich lächle.
»Ist noch an«, sage ich und stehe auf.
»Der Film beginnt in drei Minuten.«
»Ja.«
Ich springe auf, ziehe Gummistiefel über, patsche durch das matschige Gras des sehr kleinen Gartens – wir bewässern quasi die Nachbargrundstücke mit – und stelle den Rasensprenger ab. Aus einer Laune heraus springe ich zweimal in die Höhe und erfreue mich daran, wie die Größe-44-Sohlen meiner Stiefel Mini-Tsunamis zur Seite schwappen lassen. Durch die Terrassenfensterscheibe sehe ich, wie mir Gisela einen Vogel zeigt. Erstaunlich, dass sie mir überhaupt zusieht.
Der Film heißt »Eine Hochzeit zum Verlieben«, spielt in den Achtzigern, ist aber Ende der Neunziger gedreht worden, viele Details wirken überzogen und unstimmig; wie oft in solchen Produktionen fehlt es an der nötigen Selbstverständlichkeit beim Tragen oder Präsentieren der alten Klamotten und Accessoires. Es wirkt wie auf einem Kostümfest. Ansonsten ist das eine typische Hollywood-Komödie, bei der von der ersten Sekunde an klar ist, wie sie enden wird. Ein paar Szenen sind wirklich lustig, und wenigstens gibt es keine, die auf so brachiale Art komisch zu sein versucht wie die mit dem Jungen, der sich auf der Toilette des Mädchens, das er gerade zum Ball abholen möchte, die Eier im Reißverschluss einklemmt. Ich weiß den Titel des Films nicht mehr, irgendwas mit »Mary«, aber nach dieser Szene habe ich abgeschaltet. Innerlich. Gisela hingegen amüsierte sich damals königlich. Es folgte der übliche Fernsehkomödiendialog:
»Das war doch lustig, oder?«
»Na ja.«
»Die Szene mit dem Jungen in der Toilette war doch klasse.« Sie kichert. »Superlustig. Oder?«
»Mmh.«
»Du kannst über nichts mehr lachen. Bist ein richtiger Miesepeter geworden.«
»Über so was habe ich auch früher nicht gelacht.«
»Quatsch.«
»Wie du meinst.«
Wir führen auch heute häufig solche Dialoge, und sie enden immer damit, dass ich Gisela – wenigstens scheinbar – recht gebe, einfach weil es anders keinen Sinn hat. Ähnliche Gespräche gibt es, wenn das Toilettenpapier alle ist, wenn der Wagen gewaschen werden muss, wenn es um Urlaubsziele geht oder Neuanschaffungen.
Am Ende dieses Filmes muss ich weinen, und das ist mir noch nie passiert. Es liegt nicht daran, dass mich das vorhersehbare Happy End besonders rühren würde. Nein. In der Schlussszene tritt der stark gealterte Billy Idol auf, und aus irgendeinem Grund macht mich das so traurig, dass ich heulen muss.
Gisela missdeutet meinen Gefühlsausbruch. Da sie sogar bei einigen Werbespots heult, geht sie davon aus, dass mich das schmalzige Ende anrührt, und sie greift tatsächlich nach meiner Hand. Unsere Hände berühren sich nur noch, wenn wir uns etwas geben, wie
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