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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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ein paar andere, die ich aus dem Nachtschicht kannte. Es dauerte ganze zwanzig Minuten, neben Frank war Giselas beste Freundin Janine Trauzeugin, eine zwar sehr gut aussehende, aber bestenfalls semiintelligente junge Frau, die ich ein paar Tage zuvor kennengelernt hatte. Janine lief mit offenem Mund durch die Welt, ein Zeichen ihres permanenten Nichtverstehens, und auf meine Erklärung, aus Berlin zu kommen, fragte sie: »Liegt das nicht in Russland?«
Danach hieß ich nicht mehr Tim Köhrey, sondern Tim Kaiser, weil die Brautfamilie darauf bestanden hatte, wegen der Erben, wegen des Namens, du weißt schon, die Baustoffhandlung. Ich hatte zu alldem genickt, auch egal, mein Nachname hatte mir nie etwas bedeutet. Wir küssten uns mit trockenen Lippen, die Gäste warfen Reis, anschließend aßen wir bei Ernst Schnitzel, Schweinebraten und natürlich Kassler.
Am Abend gab es eine Party im Nachtschicht. Ein AmateurDJ legte vor allem deutsche Schlager auf, die Alten tanzten, meine Freunde besoffen sich, nach und nach füllte sich der Laden, Fremde und Gesichtsbekannte umarmten mich, soffen Wodka und Korn und Persiko, zwischendrin tönte ab und an die meckernde Lache meines Schwiegervaters durch den Raum; die Musik war nicht sehr laut. Ich tat es den anderen gleich, kippte Biere und Wodkas. Um Mitternacht war ich angeschickert, hatte mehrere inhaltliche Diskussionen mit dem Plattenaufleger versucht, bis mich Goerch am Smokingärmel aus der Kanzel zog und »Lass ma gut sein« sagte. Dann spielte der DJ Doris Days »Que sera«, und Gisela, die bis zu dieser Zeit nur aufgeregt durch den Raum gewuselt war, schleifte mich grinsend auf die Tanzfläche. Es war eher ein Blues, den wir tanzten, der Laden drehte sich um mich, aber ich sah trotzdem meine Kumpels, die an der Bar standen und aus der Menge herausragten wie Perlhühner aus einem Schwarm Spatzen: Der lange Pepe, auch im Sommer im langen Mantel, den er über einem schicken Zweireiher trug, dazu der unvermeidliche Hut. Frank im schnittigen Maßanzug und mit stylish frisierten Haaren. Der kompakte Osti in Jackett, Jeans und Turnschuhen, der auf Janine einschwatzte und dabei wild gestikulierte. Neuner, der zu mir herüberstarrte und seit der Trauung ein fassungsloses Gesicht machte. »Whatever will be, will be. The future’s not ours to see. Que sera, sera«, sang die gute alte Doris.
Am Tag danach aßen wir zum Abschied gemeinsam zu Mittag, Frank, Osti, Pepe, Neuner und ich. Alle hatten rote Augäpfel. Bis auf ein paar Floskeln wurde nichts gesagt, wir umarmten uns, dann verschwanden sie, Pepe nahm seinen nach Aschenbecher stinkenden R4 mit. Osti grinste und sagte: »Tim Kaiser, das ist originell«, und ich weiß bis heute nicht, was er wirklich meinte.
Ich sah die vier in diesem Jahrtausend nicht mehr wieder.
    Der Nummer-eins-Hit in Deutschland an diesem Tag war »Swing The Mood« von Jive Bunny & The Mastermixers.

Zweieinhalb Zeitumstellung
    An dem Montag, der dem letzten Sonntag im März folgte, hatte ich traditionell, wenn man so will, viel zu tun, denn von überall im Haus erreichten mich Anrufe mit der immergleichen Bitte, diese absonderliche Meldung vom Bildschirm zu tilgen: Die Uhr Ihres Computers wurde sommerzeitbedingt umgestellt. Bitte prüfen Sie die Einstellungen. Wolfgangs Mitarbeiter waren mit derlei überfordert, obwohl es zweimal im Jahr und durchaus nicht überraschend geschah, aber dafür kannten sie sich mit Kies, Türzargen und Akkuschraubern aus wie kein anderer in der Region. Ich nahm dann meinen Kaffeetopf und marschierte grinsend von Büro zu Büro, um auf eine Schaltfläche zu klicken und dem jeweiligen Angestellten freundlich, aber keineswegs herablassend auf die Schulter zu klopfen. Nach einer Stunde lief alles reibungslos, auch in diesem Jahr. Nur ein älterer Buchhalter nervte mich noch beharrlich über das Telefon. Ich bat ihn mehrfach, schlicht auf OK zu klicken, aber er blieb dabei, dass ich mir das anschauen müsse. Also dackelte ich an Wolfgangs Büro vorbei in den Teil des Gebäudes, in dem die Bilanzen gefälscht wurden.
    »Das kann doch nicht stimmen«, sagte der glatzköpfige Herr, den ich selten sah, weil die Finanzleute, wie sie sich selbst nannten, gerne unter sich blieben, was mein Schwiegerpapa, der Chef, durchaus unterstützte.
    Ich stellte mich neben den Buchhalter und wollte schon meinen Standardsatz wiederholen, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen.
    »Das kann nicht stimmen«, erklärte er und wies anklagend auf seinen

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