Geisterfahrer
Monitor.
31.12.1989 stand da als Datum.
Manchmal vergehen Stunden, ohne dass man bemerkt, was in dieser Zeit geschehen ist – man schaut verblüfft zur Uhr und denkt so etwas wie Oha, schon zwölf, hätte ich jetzt nicht gedacht. Manchmal vermisst man ein paar Wochen, vielleicht sogar einen Monat oder drei, wenn man auf das Jahr zurückblickt, und man hat Schwierigkeiten, die Ereignisse und ihre zeitliche Zuordnung zusammenzubringen. Und mehrere Jahre ergeben in der Erinnerung häufig deutlich weniger gefühlte und erlebte Zeit. Meine Kindheit summiert sich dieserart auf weit weniger Jahre, als tatsächlich verflossen sind, und die ersten Jahre nach meinem Auszug bei Jens und Ute empfinde ich rückblickend als besonders kurz.
Aber jetzt waren über sechzehn vergangen, auf einmal. Diese Erkenntnis erreichte mich in diesem Moment wie ein Hieb mit dem Klappspaten. Ich starrte das Datum auf dem großen Röhrenbildschirm an und konnte meinen Blick nicht davon lösen. Es kam mir vor, als wäre ich gestern noch durch die Provinz getingelt, hätte bestenfalls vorgestern im Nachtschicht meinen ersten Gig gegeben und vielleicht letzte Woche Pepes R4 bestiegen. Diese Erinnerungen waren weit präsenter als all das, was mir danach widerfahren war. Was hatte ich im vergangenen Jahr um diese Zeit gemacht? Und im Jahr davor? Ich starrte den Buchhalter an, der mich ebenso fragend ansah, und wusste es nicht. Ich wusste es einfach nicht .
Mit zitternden Fingern korrigierte ich das Datum und nuschelte etwas davon, dass die Zeitsynchronisierung mit dem Server überprüft werden müsse. Dann taperte ich nach draußen hinter den Wellblechtrakt, um mir heimlich eine Zigarette anzuzünden.
Es war kühl, aber als ich den ersten Rauchschwaden hinterhersah, wurde mir richtig kalt, von tief innen. Ich blickte zu den Kiesbergen, lauschte auf das Geräusch der Autos, die auf den Hof fuhren, und wünschte mir nichts sehnlicher, als irgendwo in Wolfgangs Regalen ein Werkzeug zu finden, mit dem ich die Zeit zurückdrehen könnte.
Drei 1. Fernsehen
»Was machen wir heute Abend?«, fragt Gisela. Sie liegt seitwärts auf unserem Sofa, einem braungeblümten, mit frotteeartigem Bezug versehenen Monstrum. Gisela trägt rosafarbene Leggins, die an den Oberschenkeln deutlich ausgeleiert sind, dazu rot-blau geringelte Tennissocken mit verschmutzten Sohlen, die an den Zehen überhängen. Wenn sie nach draußen geht, schiebt sie die besockten Füße in Flip-Flops, dann wurstelt sich der Sockenstoff auf sehr unansehnliche Weise vorne aus den Gummisandalen heraus. Gisela macht das nichts aus; auch ihr verschlissenes, ausgeblichenes T-Shirt nicht. »I love NY« steht auf ihrer Brust. Gisela war nie in New York, ich auch nicht. Das Hemd, ein Geschenk ihres Vaters, der mich noch Wochen nach seiner Reise mit Geschichten aus dem »Bick Äppell« nervte, hat unter der linken Achsel ein tischtennisballgroßes Loch, ich kann ihre Achselhaare sehen.
Ihre Kopfhaare sind ein bisschen fettig, der Abstand zwischen Ansatz und Färbgrenze beträgt inzwischen fast fünf Zentimeter. An den Waden, zwischen Tennissocken und Leggins, sind die Stoppeln der nachwachsenden Beinbehaarung im Kontrast zur bleichen Haut gut auszumachen. Morgen wird sie sich die Haare waschen und die Beine rasieren, morgen ist Sonntag; am Montag, im Büro – sie arbeitet noch immer für den Steuerberater –, muss wieder alles stimmen.
Ich spüre, dass sie mich ansieht, während ich sie mustere. »Und?«
Fast habe ich ihre Frage vergessen, aber nur fast. Wir könnten
vögeln , antworte ich, aber nur in Gedanken. Das haben wir seit gefühlten zehn Jahren nicht mehr getan, vögeln, nur einmal fast, vor einigen Wochen, als wir nach einer ziemlich promillehaltigen Gartenparty nach Hause kamen – im letzten Moment hat Gisela einen Rückzieher gemacht und sich kichernd im Bad eingeschlossen. Und darüber geredet haben wir noch länger nicht mehr. Eigentlich, wenn ich recht überlege, haben wir noch nie über Sex geredet. Tatsächlich würde ich die Frage auch nicht stellen wollen . Es ist nur ein Gedankenspiel. Eines, das mich – zu meinem eigenen Erschrecken – befremdet.
»Was würdest du gerne tun?«, frage ich. Da ihre Frage ohnehin rhetorisch war und sie nur meiner Aufmerksamkeit sicher sein wollte, nickt sie und greift nach der Hörzu , die auch Wolfgang und Trudchen abonniert haben.
»Wozu brauchen wir eine verdammte Fernsehzeitschrift?«, hatte ich gefragt, damals, zwei Wochen nach unserer
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