Geisterfahrer
muss ich ihrem Sensorenbereich entschwinden, und das tue ich ausgesprochen gern. Sie ist im Bad, der Fernseher im Wohnzimmer läuft, aber ich schalte ihn nicht aus, Gisela pendelt zwischen Bade-, Schlafund Wohnzimmer hin und her, in einem uralten Bademantel, den sie unverschlossen trägt, darunter beigefarbene Wäsche; ihre BH-Größe ist in den letzten Jahren um zwei Nummern gewachsen. Nackt habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen. Vermutlich hängen ihre Brüste inzwischen, ich weiß es allerdings nicht sicher.
Ich gehe aus dem Haus, hebe den Topf mit dem Buchsbaum kurz an, der neben der Tür steht, hole meine Kippen darunter hervor und schiebe sie mir rasch in die Hosentasche. Außer Sichtweite zünde ich mir eine Zigarette an, genieße die ersten Züge, blase Rauchringe, es ist so gut wie windstill und tierisch warm, am Mittag waren es über 35 Grad. Gisela wird nicht bemerken, dass ich geraucht habe, dafür kommen wir uns nicht mehr nahe genug. Vermutlich wäre es ihr inzwischen auch egal.
Dann spaziere ich die hitzeflirrende Straße entlang, vorbei am vernagelten Nachtschicht. Goerch hat Nieder-Sengricht vor drei Jahren verlassen. Er lebt in einem Pflegeheim, Schlaganfall mit zweiundfünfzig. Leben vorbei. Ich vermisse ihn, er war mein einziger Freund hier, auch wenn ich seit der Heirat nie mehr im Nachtschicht aufgelegt und nur selten mal ein Beck’s bei ihm getrunken habe, wenn Gisela übers Wochenende irgendwo hingefahren war und ich nicht mit ihr fernsehen musste. Er hat mich oft in der Baustoffhandlung besucht. Ich sollte mal wieder bei ihm vorbeischauen, aber es zerreißt mich, wenn ich das tue. Er kann sich so gut wie überhaupt nicht mehr bewegen, und wenn er reden will, kommen nur schreckliche Röchelgeräusche. Seine riesigen Pranken liegen zitternd auf den Armlehnen des Rollstuhls, und er sieht so unglücklich aus, wie ein Mensch nur aussehen kann. Er kann nicken und den Kopf krampfartig schütteln, aber ich habe ihn noch nicht gefragt, ob er lieber tot wäre.
Am Ortsende biege ich, wie an fast jedem Sonntag seit fünf Jahren, in einen Feldweg ein, der hinter den Häusern entlangführt. Nach einigen hundert Metern geraten die Häuser außer Sicht, ich bin von niedrigem Gebüsch umgeben, erreiche eine abgesperrte, matschige Weide, auf der ich noch nie ein Tier gesehen habe. Der Weg macht dahinter einen Knick nach links, fünfhundert Meter weiter kreuzt er eine kleine Straße, die aus Nieder-Sengricht in einen noch kleineren Ort führt, nach dem überhaupt nichts mehr kommt. Ich gehe nach links, zurück in Richtung Heimat, das erste bewohnte Haus ist mein Ziel. Es liegt am Ende der Straße, von Nieder-Sengricht aus gesehen, direkt neben dem Ortsschild. Janine wohnt hier.
Ich sehe mich um, aber hier lebt wirklich niemand mehr außer der besten Freundin meiner Frau. Der Verkehr nach … Dings , diesem Ort, der da noch kommt, besteht bestenfalls aus drei Fahrzeugen am Tag, und an Sonntagen bewegt sich in der gesamten Gegend ohnehin niemand vor die Tür, außer vormittags zur Kirche – Gisela geht alleine, manchmal mit Roland – oder an den Tagen, an denen irgendwelche Schützen- und Feuerwehrfeste stattfinden. Zu viele, nach meinem Geschmack.
Janine wohnt in dem Haus, das ihr die Eltern hinterlassen haben. Sie öffnet kurz nach dem Klingeln, zieht mich heftig in den Flur, schlägt die Tür zu und küsst mich ab.
»Alles Gute zum Geburtstag«, sage ich quasi in sie hinein. Dank meines Smartphones, das Wolfgang bezahlt hat, ohne es zu wissen, habe ich dieses Datum nicht vergessen. Janine riecht und schmeckt nach Alkohol. Sie verträgt absolut nichts, dreht schon nach einem Glas mit vergorenem Saft völlig unrund, und erst jetzt bemerke ich die Piccolo-Sektflasche in ihrer Hand.
»Danke«, sagte sie nuschelnd, dann bricht sie in Tränen aus.
Sie ist fünfunddreißig geworden, sieht aber immer noch ziemlich jung aus.
»Was ist?«
»Keiner hat an mich gedacht«, sagt sie unter Tränen.
»Ich habe an dich gedacht.«
»Gisela nicht.«
»Oh.« Ich verkneife mir das Lächeln.
»Gisela ist scheiße«, erklärt Janine. »Scheische«, sagt sie, und ich vermute, dass sie nicht ihre erste Flasche trinkt. Das Wort würde sie sonst nicht einmal unter Folter in den Mund nehmen.
»Sag nicht so was«, bitte ich, obwohl ich letztlich ihrer Meinung bin.
»Soll ich dir mal was über deine tolle Frau erzählen? Was dich wirklich umhaut?« Sie heult plötzlich nicht mehr, sondern grinst jetzt, sogar fast ein bisschen
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