Geisterfahrer
Geld, die Autoschlüssel oder so, meistens gebe ich ihr etwas. Ich ziehe meine Finger weg, aber die Tränen kann ich aus irgendeinem Grund nicht stoppen. Ich weine nicht um Billy Idol, der immer noch so auszusehen versucht wie zu seiner Heldenzeit mit »Rebel Yell«, »White Wedding« und diesen Hits, die ich aufgelegt, zu denen wir getanzt und abgefeiert haben, in einer Zeit, die wirklich lange her ist. Er ist wieder auf Tour, habe ich irgendwo im Netz gelesen. Etwas in mir will in diesem Moment unbedingt auf ein Billy-Idol-Konzert gehen. Ich weine, weil ich neidisch bin. Der Mann mag lächerlich wirken, wie er da, stark geschminkt und immer noch in seinem Achtziger-Standardoutfit, so tut, als hätte sich nichts geändert, aber er zieht wenigstens sein Ding durch.
2. Sonntag
Aus Rolands Zimmer kommen die Geräusche des Ego-Shooters, mit dem er seit Wochen fast rund um die Uhr spielt.
Mein Sohn. Er wird in einigen Monaten siebzehn, und er heißt tatsächlich Roland. Die Diskussion fand zwei Tage nach seiner Geburt statt, er wurde zwar drei Wochen zu früh geboren, nach meiner Rechnung jedenfalls, wog aber stattliche dreieinhalb Kilo und war kerngesund.
»Wir nennen ihn Roland«, sagte Gisela.
»Roland? Dann heißt er Roland Kaiser . Das ist nicht dein Ernst, oder?«,
»Mein Opa hieß Roland. Der Vater von Wolfgang.«
»Ja, aber … Man kann ein Kind doch nicht wirklich so nennen. Stell dir vor, was seine Schulkameraden mit ihm machen.«
»Wir nennen ihn Roland«, wiederholte Gisela nickend und schob sich den zerknautschten Säugling an die Brust. Die Diskussion war beendet. In den knapp acht Monaten vor Rolands Geburt hatte ich gelernt, dass es keinen Sinn hatte, gegen Giselas überaus konkrete Vorstellungen anzugehen. Also fügte ich mich. Es tat weh, aber was sollte ich tun? Mein Sohn wurde also Roland Kaiser getauft.
Ich klopfe an, die Geräuschkulisse ändert sich nicht erkennbar, also öffne ich die Tür. Roland sitzt an seinem Schreibtisch, auf dem Computermonitor flackern Lichtblitze, er hat sich vorgebeugt, das Gamepad in beiden Händen. Die Haltung sieht verkrampft aus. Roland ist breitschultrig, hat tiefschwarze Haare, die er wie alle seine Kameraden kurzgeschnitten trägt, und die Nase ist vom Opa, meinem Schwiegervater, also sehr fleischig und mit breiten Flügeln. Er hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit mir. »Alles okay?«, frage ich.
Roland nickt nur, ohne sich umzudrehen. Ich könnte etwas fragen, etwa, auf welchem Level er ist (wahrscheinlich haben wir schon ein paarmal anonym gegeneinander gespielt, denn ich habe das gleiche Spiel auf meinem Computer in der Baustoffhandlung, aber das weiß hier niemand) oder wie es in der Schule läuft (eher schlecht; Roland hat Probleme in Mathe, Deutsch und Englisch, er schafft den Realschulabschluss, wenn überhaupt, nur mit Ach und Krach), aber er wird nicht antworten. Roland redet nicht gern, und mit mir so gut wie überhaupt nicht. Anfangs, als er sehr klein war, etwa bis zu seinem fünften Lebensjahr, gab es eine Art Verhältnis zwischen uns, wir haben zusammen gespielt und viel gelacht, obwohl ich jedes Mal, wenn ich ihn sah, anfasste, in den Armen trug, das Gefühl hatte, all das würde nicht wirklich mir passieren und dieses Kind hätte nichts mit mir zu tun. Daraus machte Gisela Realität, indem sie nach und nach damit begann, alle meine Entscheidungen zu revidieren, mir sogar verbot, auf ihn einzuwirken; schließlich fällte sie alle ihn betreffenden Entscheidungen allein. Roland ist seitdem ihr Kind, nicht mehr unseres. Ich habe das eine Zeitlang bedauert. Inzwischen empfinde ich nichts mehr dabei. Ich verdränge es, wie das meiste, das in diesem Haus geschieht.
»Viel Spaß«, sage ich leise und schließe die Tür. Als Roland in die Oberschule kam, war er ziemlich dick, und seine Mitschüler nannten ihn folgerichtig »Sieben Fässer Wein«. Inzwischen hat er abgespeckt, aber ich glaube, den Spitznamen trägt er immer noch. Gisela nennt ihn »meinen Rolli«. Manchmal, wenn sie ihn zur Begrüßung küsst, hält sie dabei ihren Mund so lange auf seinem, dass ich eine Gänsehaut bekomme.
Meine Frau macht groß reine, wie sie sagt; der Begriff stammt von Trudchen, meiner Schwiegermutter. Damit meint Gisela in erster Linie sich selbst. Ausgiebiges Wannenbad, Rasuren, Haarefärben, solche Sachen. Sonntagnachmittage sind ihre Zeit , ich bin abgemeldet, sofern man davon überhaupt sprechen kann, denn eigentlich bin ich das generell, aber zu dieser Zeit
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