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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Ich bekomme eine Gänsehaut.
»Was ist mit Roland?«
Janine nickt, nimmt noch einen Schluck, und dann sagt sie: »Der is überhaupt nicht von dir.«
    Eine Stunde später sitze ich in meinem kleinen Büro. Es ist dunkel geworden, mein Mobiltelefon hat zweimal geschnarrt; Gisela wollte mich erreichen, vermutlich, um das Fernsehprogramm zu planen. Ich zittere am ganzen Körper, obwohl wir den heißesten Juli seit Jahren haben. Ich starre auf das Fenster und kann keinen klaren Gedanken fassen. Es ist unbegreiflich und so gemein, so niederträchtig, so widerwärtig. Das fragile Kartenhaus war niemals eins. Nicht einmal ein Kartenhaus.
    Wolfgang hat eine kleine Bar in seinem Büro. Er schließt es zwar ab, aber er ist ein Pfennigfuchser, das einfache Türschloss lässt sich sogar von einem Laien wie mir leicht austricksen. Da sind zwei Bier und noch drei Fingerbreit in der Johnnie-Walker-Flasche. Ich denke doch tatsächlich daran, was Wolfgang sagen wird, wenn er den Raub bemerkt, aber dann wird mir klar, dass mir das nichts mehr ausmacht, nichts mehr ausmachen kann. Ganz im Gegenteil. Er könnte in dieser Sekunde sein Büro betreten. Ich würde ihm den Marsch blasen. Stünde er jetzt neben mir, würde ich ihm sogar die Flasche über den Kopf ziehen. Er wusste es nämlich auch. Nicht alle Details, das i-Tüpfelchen möglicherweise nicht. Aber er wusste, dass sie mir Roland untergejubelt hat. Wahrscheinlich weiß er nicht, wer der tatsächliche Vater ist. Aber dass ich es nicht bin, das wusste er schon immer.
    Sie haben mir mein Leben gestohlen.
Beim zweiten Bier setzen die Tränen ein, endlich, und dann schnarrt das Telefon wieder. Ich bemerke es erst nicht, dann vibriert sich der kleine Kasten vom Schreibtisch. Durch den Tränennebel sehe ich unsere Telefonnummer, die von zu Hause . Ich drücke die grüne Taste, halte mir den Apparat vor den Mund, brülle »Fick dich!« und schmeiße das Ding in die Ecke. Der Akkufachdeckel springt ab, der Akku schlingert über den Fußboden. Meine Wut ist greifbar, ich reiße Computerbücher aus meinem Regal, werfe das Foto von Gisela und Roland auf den Flur – das Bild stammt aus seinem ersten Lebensjahr –, trete gegen meinen Schreibtisch, schlage gegen die Rigipswand, hinterlasse sogar eine Beule. Sechzehn Jahre meines Lebens. Fast siebzehn. Einfach weg. Auf Nimmerwiedersehen. Und alles für den Arsch. Ich habe mich drangsalieren, unterbuttern, ausnutzen lassen. Von diesem Blender-Arsch, von dieser dicken Fischköchin, von diesem desinteressierten Ego-Shooter und vor allem von dieser … ich finde keine Worte. Blöde Kuh , hat Janine gesagt. So ein Quatsch. Jedes noch so dumme Rind auf der Welt hat mehr Mitgefühl. Womit habe ich das verdient, frage ich mich. Was habe ich getan, dass ich sechzehn Jahre im offenen Vollzug verbringen musste?
Meine Zigaretten sind alle, völlig neben der Spur wanke ich zum Empfang, wo Janine werktags auf das Telefon glotzt, reiße wahllos Schubladen auf. In Nieder-Sengricht gibt es keinen einzigen Zigarettenautomaten mehr, seit der »Elch« vor einem Jahr geschlossen hat, nur einen Kiosk mit kaum durchschaubaren Öffnungszeiten. Aber Janine bunkert immer ein paar Stangen im Schreibtisch. Ich werde fündig, kehre in mein Kabuff zurück, rauche und starre auf den blinden Laptopmonitor. Mein Bürotelefon klingelt, ich reiße das Kabel aus der Wanddose. Dann schalte ich den Computer ein. Ich muss irgendwas tun, das mich ablenkt, also rufe ich Mails ab.
Das meiste ist Spam, hirnlose Werbung von Viagra-Versendern, Pornowebsites und derlei. Ein, zwei Nachrichten sind geschäftlich, eine beantwortet eine Frage, die ich in einem Programmiererforum gestellt habe, aber nichts könnte mich weniger interessieren in diesem Moment.
Und dann ist da noch eine. Erst will ich sie in den Papierkorb schieben, denn der Betreff lautet »Das sollte Dich interessieren«, was nach Virus oder Spam klingt, aber die Nachricht hat keinen Anhang, sie kommt über einen anonymen Webmailaccount, vermutlich aus einem Internet-Café. Dann lese ich:
»Hallo, Tim. Es war nicht leicht, Dich zu finden. Sie wollte immer vor der Kamera stehen, nicht wahr?«
Darunter der Link zu einer Internetseite. Die Mail ist signiert mit »Ein Freund?«. Die URL enthält das Wort »Porno«. Ich habe den Finger schon über der Löschtaste, da sehe ich den letzten Teil der übermittelten Adresse, den Namen des verlinkten Dokuments: mel.htm .
Ich erwache, weil jemand an meiner Schulter rüttelt. Mein Kopf

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