Geisterfahrer
er zum Abschied.
Es sind noch vierzig Kilometer bis nach Hannover. Ich fahre viel zu schnell auf der Landstraße, zweimal werde ich von stationären Radarfallen geblitzt, scheißegal, Gisela bekommt die Strafzettel. Ich kann es nicht erwarten, aus dieser Gegend wegzukommen, aus Nieder-Sengricht, und aus Nieder-Sachsen, ich will nicht mehr an einem Ort leben, dessen Name ein so destruktives Präfix hat. Aber ich verfahre mich, plötzlich bin ich in einer Ministadt namens Burgdorf, dort gibt es immerhin einen Wegweiser zur A2. Wenig später bin ich über die Anschlussstelle Lehrte auf der Autobahn. Es dauert einen Moment, bis mir bewusst wird, was gerade geschieht. Ich sitze auch in einem VW-Golf. Er ist zwar silbern, wie die meisten Autos, und nicht senffarben. Gänsehaut wandert mir die Arme hoch. Hier sind meine Eltern gestorben, vor zweiunddreißig Jahren, sie fuhren in die gleiche Richtung, nur auf der anderen Autobahnspur. Und im Rückwärtsgang.
Ich bin siebenunddreißig. Während ich versuche, mich auf den Verkehr zu konzentrieren, rotiert dieser Gedanke in meinem Schädel. Ich bin siebenunddreißig. Kaum zu fassen.
Gestern war ich noch Anfang zwanzig.
Der Hauptbahnhof Hannover sieht beeindruckend aus. Ich bin noch nie mit einem ICE gefahren. Ich bin überhaupt noch nie mit der Deutschen Bahn gefahren. Ich stelle den Golf am Ende einer Taxiwarteschlange ab, und während ich den Koffer und die zwei Kartons auf einen Gepäckwagen verfrachte, steigt ein schnurrbarttragender Taxifahrer aus seinem Wagen und sagt in rauem Deutsch: »Sie dürfen hier nicht parken.« Ich lächele ihn nur an und zucke die Schultern. Sollen sie die Karre abschleppen lassen, meinetwegen sogar verschrotten, zu einem Würfel pressen oder in die Luft jagen. Es ist befreiend, so etwas zu tun. Wenigstens ein bisschen.
Die Züge nach Berlin gehen im Stundentakt. Ich stehe in der Warteschlange im Reisezentrum, während im Hintergrund immer wieder »Willkommen in der Expo- und Messestadt Hannover« zu hören ist. Die Expo war vor sechs Jahren. Wir haben nicht einmal darüber gesprochen, nach Hannover zu fahren. Gab’s ja alles im Fernsehen.
»Nach Berlin, erster Klasse«, sage ich, als ich an der Reihe bin.
»Hin- und Rückfahrt?«, fragt der Mann hinter dem Counter.
»Nur Rückfahrt«, antworte ich und freue mich dabei.
Der Bahnhof ist gewaltig. Ich esse eine Bratwurst an einem der vielen Stände, stehe inmitten von Heerscharen, die hierhin und dorthin eilen, meistens ziemlich rücksichtslos. Ich konzentriere mich nur auf den herabtriefenden Senf. Dann hebe ich an einem Geldautomaten tausend Euro ab, mehr geht leider nicht auf einmal. Gütertrennung. Gisela weiß nicht, dass ich ein eigenes Konto habe, immer noch, aus der Zeit vor unserer Ehe, und dort befindet sich wegen eines kleinen, heimlichen Lottogewinns – ich hatte online im Büro getippt, meine, Mels und Kuhles Geburtsdaten – sogar ein größerer fünfstelliger Betrag. Aber dieses Geld hole ich von unserem Konto. Ich brauche es nicht, aber ich will Schaden anrichten. Wenigstens einen kleinen. Sie werden sowieso bereits bei einem von Wolfgangs schmierigen Freunden sitzen, Anwälte kennt er noch und nöcher, und darüber diskutieren, wie der Schaden in Grenzen zu halten ist.
Mir fließt der Schweiß in kleinen Bächen über die Stirn. Im Bahnhof müssen trotz Klimaanlage knapp vierzig Grad sein.
Dann sitze ich im gutgekühlten Erste-Klasse-Raucherabteil eines ICEs. Wahnsinn. Seitlich am ledergepolsterten Sitz sind Steckdosen, vor mir hängt ein kleiner LCD-Bildschirm, ich habe Beinfreiheit, schräg gegenüber sitzt ein Tagesschau-Sprecher, vor sich fünf Mobiltelefone und einen Laptop. Auf meinem iPod läuft ein neueres Album von »Fury In The Slaughterhouse«, einer Band aus Hannover, von der ich mir Ende der Achtziger ein paar Platten gekauft hatte. Es ist nicht der allergeringste Unterschied zwischen dem neuen und den alten Alben festzustellen, aber genau das gefällt mir in diesem Moment, obwohl ich diese Art von Mucke eigentlich nicht mehr mag.
Ich fühle mich wie auf dem Rückweg von einer Zeitreise. Der Schaffner fragt, ob ich etwas aus dem Speisewagen wünsche. Klar doch. Ich trinke Kaffee und Bier, esse, obwohl ich keinen Hunger habe, grausige Nürnberger Rostbratwürstchen, tue das, weil ich es kann . Weil keine Gisela danebensitzt und sagt: »Das ist zu teuer« oder: »Wir haben das viel besser zu Hause.«
Ich frage den Zugbegleiter, wann wir die ehemalige innerdeutsche
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