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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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die meines Vaters, einige von den Kassetten, die Kuhle und ich aufgenommen haben. Viel ist es nicht. Dann setze ich mich ins Wohnzimmer, rauche, trinke Kaffee und warte. Eine halbe Stunde später höre ich das Auto.
Sie steht vor mir und starrt mich an, ihre Wangen sind rot, vermutlich hat sie sich sehr beeilt. Ich blase Rauch in die Luft und starre zurück. Asche fällt von meiner Zigarette auf die Auslegeware.
»Du rauchst?«, fragt sie nach einer Weile.
»Du fickst mit deinem Bruder?«, frage ich zurück.
Die Wangenröte verschwindet innerhalb von Sekundenbruchteilen. Sie wankt, greift mit der rechten Hand in die Luft, will sich irgendwo festhalten. Sie ist so hässlich in diesem Moment. Sie war nie wirklich schön, ich verstehe in diesem Augenblick sowieso nicht mehr, wie all das kommen konnte. Doch jetzt ist sie hässlich, abgrundtief und widerwärtig abstoßend.
»Gib mir die Wagenschlüssel«, sage ich.
»Das ist mei…«, beginnt sie schwach.
»Du willst diese Diskussion jetzt nicht wirklich führen, oder? Was deines ist und was meines?«
Sie schüttelt langsam den Kopf.
»Also gib mir die Scheißwagenschlüssel. Du kannst ihn dir morgen abholen, er steht am Bahnhof in Hannover.«
Gisela nickt. Sie weint nicht, ihr Gesicht ist voller Bitterkeit. Eine zittrige Hand hält mir den Schlüssel entgegen. Ich nehme ihn, verspüre den Impuls, sie zu schlagen. Doch das wäre zu einfach. »Du hörst von meinem Anwalt«, murmele ich stattdessen und lade die Kisten ins Auto, setze mich hinein, zünde mir eine Zigarette an und fahre los.
In die richtige Richtung, wie ich hoffe.

5. A2
    »Ein Freund«, stand unter der Mail. Beantworten ließ sie sich nicht, meine Versuche wurden als unzustellbar abgewiesen. Kuhle ist der Einzige, dem ich erzählt habe, dass Mel gerne Fotomodell geworden wäre. Damals, vor zwanzig Jahren. Die Nachricht kann nur von Kuhle sein.
    »Ich habe hundertzwanzig Einträge mit dem Nachnamen Kuhlmann in Berlin«, sagt die fast ein bisschen zu freundliche Dame von der Mobilfunkauskunft, während ich vor Aufregung über den eigenen Mut zitternd lausche. »Darunter zwei mit dem Vornamen Michael. Möchten Sie, dass ich Ihnen die Nummern per SMS zusende?«
    »Danke, nein«, sage ich und beende das Gespräch. Ich kann Kuhle nicht einfach anrufen. Wenn er denn einer von den beiden Michaels ist. Vielleicht lebt er auch gar nicht mehr in Berlin. Vielleicht heißt er nicht mehr Kuhlmann, sondern König oder so. Vielleicht war es überhaupt nicht Kuhle. Und was sollte ich auch sagen? »Hallo, alter Kupferstecher, hier ist Tim. Erinnerst du dich? Spejbl und Hurvinek? Wie geht’s? Sag mal, hast du mir den Link zu einer Pornosite geschickt?« Nein, so geht das wirklich nicht.
    Ich fahre durch die rotgeklinkerten Einheitsdörfer bis nach Celle, wo Goerch im Pflegeheim lebt. Auf dem Weg dorthin rauche ich zehn Zigaretten.
    Er sitzt im Rollstuhl, in einem Aufenthaltsraum zwischen lauter alten und kranken Menschen, die vor sich hin glotzen oder extrem verlangsamt Brettspiele bedienen. Es ist sehr still, es riecht nach Essen, am Eingang des Aufenthaltsraums ist auf einem Schild das Mittagsmenü angekündigt: Bregenwurst mit Kartoffelpüree.
    Goerch sieht mich kommen, sein Gesichtsausdruck verändert sich wenig. Seine Rehaprognose ist schlecht, und vermutlich wird er bald sterben. Primär ischämischer Hirninfarkt. Besonders schwerer Fall. Es hat lange gedauert, bis der Notarzt in NiederSengricht war. Zu lange.
    »Hallo, Goerch«, sage ich, setze mich neben ihn auf einen klapprigen Metallstuhl und lege meine Hand auf seine rechte, die früher mal so groß war wie ein Ersatzrad, aber alles an ihm ist heute verkleinert – als hätte man die Luft aus ihm herausgelassen. Sein Gesicht ist eingefallen. Sein rechtes Bein zittert stark, in Schüben, die alle paar Minuten kommen.
    »Wie geht’s?«
Goerch schüttelt langsam und mühselig den Kopf. »Höcht«, sagt er. Ich nicke.
»Kann ich irgendwas für dich tun?«
Wieder das Kopfschütteln. Seine Augen sind unendlich traurig. »Ich habe Gisela verlassen. Ich gehe zurück nach Berlin.« Er sieht mich an, und da ist fast ein Lächeln. Dann nickt er. Die
    Hand, die ich immer noch halte, scheint sich zu bewegen. Und dann sind plötzlich Tränen in seinen Augen.
»Hut«, sagt er, das Sprechen quält ihn sehr. Ich nicke wieder.
»Ich weiß nicht, ob ich dich noch mal besuchen werde, in naher Zukunft. Aber ich bin in Gedanken bei dir.«
Er nickt wieder, ganz langsam.
»Hohl«, sagt

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