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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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leichtes Unwohlsein in der Magengegend.
»Scheiße, das ist fast zwanzig Jahre her«, sage ich, völlig außer Atem. Dass ich noch jahrelang Angst vor Werner hatte, muss ich hier niemandem auf die Nase binden.
Ich krame nach Erinnerungen, sehe meine alte Wohnung vor mir – und Jenny, die in meinem Bett liegt, eine Zigarette raucht und nach einem Aschenbecher sucht. Die Frau, die mir jetzt gegenübersteht, sieht aus wie eine Bankangestellte in Freizeitkleidung; sie ist zwar immer noch hübsch, aber die Wirkung, die sie zu jener Zeit auf mich hatte, ist völlig verschwunden. Es ist, als würde ich ein vergilbtes Foto ansehen. Als spielte jemand Jenny.
Sie sieht abwechselnd zu Tanja und zu mir. Ich ahne, was in ihrem Kopf vor sich geht. Das Ganze ist skurril und lustig. Ich grinse und trinke von meinem Bier. Es geht mir wieder besser.
»Du Arsch«, wiederholt sie mit einem inzwischen entspannteren Gesichtsausdruck.
»Ich hatte dir nichts versprochen. Du warst es, die plötzlich geklammert hat.« Seltsam, jetzt so einfach darüber zu sprechen, als würde man über einen alten Film reden, der gerade im Fernsehen wiederholt wird.
»Geklammert.«
»Ja.«
»Ich dachte, wir wären verliebt.«
Es klingt so unglaublich naiv, dass ich fast wieder lachen muss. Jenny sieht mich traurig an, sie ist den Tränen nah. Das verblüfft mich.
»Jenny, wir haben uns im Puff kennengelernt. Wir hatten Sex, mehr nicht.«
»Im Puff ?«, stößt Tanja hervor.
Jenny nickt. »Das ist sehr lange her.«
»Eben«, sage ich.
»Du bist einfach verschwunden.«
Ich nicke nur.
»Werner hat mich geschlagen. Ich musste zwei Monate umsonst arbeiten.«
»Was hast du erwartet? Dass er dir Rente zahlt? Verdammt, Jenny, er war dein Mack. Und du erklärst ihm, dass du aufhören willst, weil du mit einem Kunden zusammen bist.«
»Da ist Cherno Jobatay«, sagt Tanja plötzlich und verschwindet. Von der Bühne ertönt »Rebel Yell«.
Cherno Jobatay?
»Ich … du.« Jenny stockt. »Ach was. Verdammt. Es war nur … als ich dich vorhin gesehen habe. Da war plötzlich alles wieder da.« Sie schüttelt den Kopf, deutet ein Winken an und geht in Richtung Toiletten davon.
Ich bin froh, wieder allein zu sein. Die Band hat die Bühne verlassen, das Publikum verlangt nach Zugaben, über den Köpfen schwebt eine Armada von Fototelefonen. Ich brauche keine Zugabe, für heute reicht es, also drängle ich mich zum Ausgang und fahre zurück ins Hotel.
War Berlin früher auch schon so klein, dass man pausenlos Leute traf, die man eigentlich überhaupt nicht sehen wollte?

9. Telefonate
    Mein Kopf ist leer. Ich habe Rauh wie Unglatt, meinen Anwalt, noch zufällig an der Hotelbar getroffen, nach dem Konzert, und der Herr ist mir zwar irgendwie unsympathisch, war aber sehr spendierfreudig. Keine Ahnung, wie ich danach in mein Zimmer gekommen bin. Jetzt erscheint es mir jedenfalls klein, muffig, heiß und wenig wohnlich. Ich dusche, schrubbe mir die Zähne – es ist Jahre her, dass ich mir so die Kante gegeben habe –, bestelle beim Zimmerservice Kaffee, Aspirin und Mineralwasser, schalte die Klimaanlage ein und starre auf den Bildschirm meines Laptops. Keine interessanten neuen Nachrichten. Ich muss jetzt endlich etwas tun. Also Nummer eins auf der Liste.
    »Ja?« Eine Frauenstimme.
»Hallo.«
»Hallo. Wer ist da?«
»Bin ich richtig? Bei Kuhlmann?« Meine Stimme krächzt noch
    etwas. Bin ich richtig? Jesus, ich sollte nicht in diesem Zustand telefonieren.
    »Ja. Wer spricht da?« Ihr Alter ist nicht abzuschätzen, sie kann sechzehn oder sechzig sein. Leicht rauchiges Timbre.
»Mein Name ist Köhrey.« Ich spüre, wie meine Ohren heiß werden. Ich erwarte, dass sie den Namen kennt.
»Ja?«
»Ist Michael Kuhlmann zu sprechen?« Ich muss husten.
Sie schweigt. Dann, etwa zehn Sekunden später: »Mein Vater ist vor drei Jahren gestorben.«
»Oh«, sage ich, aus einem Reflex heraus. Gestorben ? Könnte Kuhle ein Kind haben? »Das tut mir leid«, sage ich schwach. Scheiße. Kuhle ist tot ?
»Was wollen Sie von ihm?«
»Ich bin auf der Suche nach einem Freund aus meiner Kindheit, der Michael Kuhlmann heißt.«
»Wie lange ist das her?«
»Knapp zwanzig Jahre.«
Sie lacht, aber unfroh. »Mein Vater war zweiundsiebzig, als er starb.«
»Dann war er das wohl nicht.« Ich bin erleichtert, aber gleichzeitig ist mir bange, weil ich jetzt noch mindestens einen weiteren derartigen Anruf vor mir habe. »Entschuldigen Sie bitte.«
»Schon okay.« Sie legt auf.
Meine Hände sind nassgeschwitzt,

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