Geisterfahrer
die Tapete stammt aus den
Siebzigern, die wenigen Möbel – eine furnierte Garderobe, ein
dunkles Telefontischchen – wirken wie aus einem nachträglich colorierten Wallace-Krimi. Christian schließt die Wohnungstür, geht
an mir vorbei und führt mich ins Wohnzimmer. Das Ambiente entspricht demjenigen des Flurs und erinnert mich fatal an
die Wohnung meiner Pflegeeltern; es gibt eine dunkel furnierte
Schrankwand mit vielen Nippes, einen Rauchglastisch und eine
abgenutzte, feldgrüne Couchgarnitur. Auf ihr hocken zwei alte
Leute, die mich mit wässrigen Augen anstarren, als ich den Raum
betrete. Der seltsame Geruch verstärkt sich. Es ist irrsinnig warm;
ich spüre Schweiß mein Rückgrat entlanglaufen.
»Das ist Tim, ein ehemaliger Klassenkamerad.«
Die beiden nicken minimal und wenden sich sofort wieder dem
Fernseher zu. Der Ton ist sehr laut gestellt. Der Kopf der alten
Frau ruckelt, und die Hand des Mannes, der sich eine Reval aus einer von acht oder neun Schachteln auf dem Tisch zieht, zittert stark. Er hustet schwindsüchtig – auch noch während des ersten
Zuges.
»Ich pflege meine Eltern«, sagt Christian leise, und er sieht mich
dabei an, als würde er gerne darüber reden. Als hätte er beschlossen, überhaupt mit mir reden zu wollen. Ich fühle mich sehr unbehaglich. »Lass uns mal rübergehen.«
»Wir gehen in mein Zimmer«, ruft er, aber die beiden Alten reagieren nicht. Ich nicke und folge ihm.
Christians Zimmer stammt komplett von Ikea, ist zwar moderner als der Rest der Wohnung, aber schrecklich klein. Es wird von
einem großen LCD-Fernseher und einem Bücherregal beherrscht,
das die gesamte Längswand einnimmt. Auf dem Tisch liegt ein
Science-Fiction-Heftroman, auf einem kleinen Schreibtisch steht
ein Computer, der eingeschaltet ist. Christian war offenbar gerade
beim Chatten, als ich geklingelt habe; ich erkenne ein paar der üblichen Kontaktbörsenpseudonyme. Hastig geht er an mir vorbei
und schaltet den Monitor aus.
»Setz dich«, sagt er dann und zeigt auf ein Klappsofa. Er zieht
sich den Schreibtischstuhl dazu, aber bevor er selbst Platz nimmt,
bietet er mir Kaffee oder Tee an. Ich möchte überhaupt nichts,
nur Sabrinas Adresse und am liebsten so schnell wie möglich wieder verschwinden. Ich schüttle höflich den Kopf. Hier drin ist es
noch heißer als im Wohnzimmer, und auch der Geruch ist prä
sent.
»Sei mir nicht böse, aber deine Eltern wirken so alt . Sie können
doch unmöglich …« Ich hebe die Hände.
»Meine Mutter ist einundsiebzig, mein Vater wird nächstes Jahr
achtzig. Sie haben uns sehr spät bekommen.«
Ich nicke.
»Jetzt sind sie krank, mein Vater hat Krebs, meine Mutter Parkinson. Sie sind auf mich angewiesen.« Er sieht zur geschlossenen
Tür, durch die Fernsehgeräusche zu hören sind. Ich muss an die
Straße denken, die nach Nieder-Sengricht führt.
»Meinen Vater muss ich nachts alle anderthalb Stunden zur Toilette bringen. Sie trinken zu wenig, sie essen fast nichts und machen sich andauernd in die Hose.« Diese Redewendung habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gehört. »Ständig vergessen sie ihre
Medikamente. Oder sie wollen sie nicht nehmen.«
»Und du?«
»Was meinst du?«
»Was machst du? Beruflich?«
Er seufzt. »Willst du das wirklich wissen?«
Ich sehe ihn an, dann zum Fenster. Natürlich will ich das nicht
wissen. Aber komischerweise fühle ich mich mitverantwortlich. »Ich wollte nach dem Abi ins Ausland«, erzählt er, ohne meine
Antwort abzuwarten. »London, Rom oder Paris. Sprachen studieren. Ich war ziemlich gut in Fremdsprachen, damals an der Schule.
Aber dafür war nicht genug Geld da; Sabrina ist das Lieblingskind
meiner Eltern. Ihr haben sie alles gegeben. Ich musste im Laden
meines Vaters jobben, habe ein Studium angefangen. Aber es funktionierte nicht, irgendwie ist alles schiefgegangen.«
Er sieht wieder kurz zur Tür.
»Dann habe ich das Geschäft meines Vaters übernommen. Einen Tabakwarenladen, auf dem U-Bahnhof Gesundbrunnen. Einen verdammten Tabakwarenladen. Mein Vater hatte seine erste
OP, linker Lungenflügel, danach war er arbeitsunfähig.« Ich sage nichts.
»Statt Paris oder Rom auf dem U-Bahnhof Gesundbrunnen.
Wahnsinn, oder?«
Ich überlege kurz, ob ich lächeln soll.
»Das habe ich bis vor zwei Jahren gemacht. Aber die Leute kaufen immer weniger Zigaretten und Zeitungen, und im Wedding
wohnen kaum noch Leute, die überhaupt lesen können.« Er verzieht das Gesicht; jetzt sieht er wirklich wieder wie eine
Ratte aus. Mein Anflug von
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