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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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erzählt, dass ich keine Steuern bezahlt habe, als ich DJ war.«
Gisela hatte mich damals in Angst und Schrecken versetzt, und das Eingeständnis fällt mir auch jetzt noch nicht leicht. Wir hatten über Rolands Erziehung gestritten, und als sie mir darlegte, sie werde nunmehr allein für ihn verantwortlich sein, hatte ich geantwortet, dass ich dann ja gehen könnte. Als Antwort drohte sie mir mit einer anonymen Anzeige. Die Drohung hatte lange nachgewirkt; ich wusste nicht, dass solche Dinge auch irgendwann nicht mehr verfolgt werden. Noch wochenlang lag ich nachts wach und sah mich im Knast, zwischen lauter harten Jungs, die mir an die Wäsche wollen.
»Ist doch auch längst verjährt.«
»Ja, aber das wusste ich nicht.«
»Gibt es Zeugen dafür?«
»Ich nehme an, dass sie auch das ihrer besten Freundin erzählt hat. Janine Kempfel. Von der ich schon gesprochen habe.«
»Die Dame, die auch von der inzestuösen Beziehung wusste.«
»Genau die.«
»Meinen Sie, Frau Kempfel würde für Sie aussagen?«
»Da bin ich mir eigentlich sicher.« Bin ich das?
Er schweigt für einen Moment.
»Ein interessanter Fall, aber nicht einfach. Wir sollten uns nach dem Kongress in meiner Kanzlei treffen. Wenn Sie von der Gegenseite etwas hören, teilen Sie den Herrschaften bitte mit, dass Sie von mir vertreten werden. Ich schicke Ihnen meine Adresse per Mail.«
Ich nenne ihm meine Mailadresse.
»Wird schon«, sagt er und legt auf. Wird schon . Goerch hat das gerne gesagt, als er noch sprechen konnte.
Vor dem Frühstück gehe ich zur Rezeption, wo die kleine, junge Frau sitzt, bei der ich eingecheckt habe. Sie will versuchen, mir ein Ticket für das Konzert zu besorgen.
»Billy Idol fand ich früher auch gut«, sagt sie lächelnd. »Dass der noch auftritt. Der muss doch fast sechzig sein.«
Ich zucke die Schultern. »Er ist etwas über fünfzig, glaube ich. Aber ich gehe da nicht hin, weil ich Idol gut finde. Ist schwer zu erklären.«
» Eine Karte?«
Ich nicke. Sie schaut mich weiterhin lächelnd an.
Zur Zitadelle Spandau kann man mit der U-Bahn fahren. Ist mir neu. Man muss nur einmal umsteigen, am Hermannplatz. Den Bahnhof habe ich von früher noch gut in Erinnerung, hier stieg man aus, wenn man zu Karstadt wollte, das einen Zugang mitten auf dem Bahnsteig hat, oder weiche Drogen kaufen, draußen, an den Eingängen. Ich wechsle in die U7, der Zug ist sauber, an der Decke hängen Fernseher, auf die alle anderen Fahrgäste starren. Nach zwei Stationen steigen drei Musiker ein, die mit Gitarre, Saxophon und Geige bewaffnet sind. Kaum ist der Zug wieder angefahren, ertönt Billigfolklore – »Bamboleo« oder so was –, und jetzt glotzen die übrigen Fahrgäste noch angestrengter auf die Monitore. Früher waren die Bezüge der Sitze aus grünem Kunstleder, heute ist alles in Stoff verpackt, in nicht sehr gemütlichen Farben. Man soll sich ja auch nicht wohl fühlen. Die Musiker steigen wieder aus, keiner hat ihnen Geld gegeben, wenn ich das richtig beobachtet habe, aber gleich darauf kommt ein filzhaariger Typ mit einer von Aufklebern übersäten Akustikgitarre. Er behauptet, obdachlos und HIV-infiziert zu sein. Das Salär fällt trotzdem mau aus.
Ich muss die ganze Zeit über daran denken, was Frank gesagt hat: Man gewöhnt sich so schnell an alles. Schon nach wenigen Tagen kommt es einem normal vor. Es ist sogar noch schlimmer. Man vergisst ziemlich rasant, wie es vorher war. Schon nach einer Nacht habe ich kaum mehr ein Gefühl für Nieder-Sengricht, die Erinnerung verblasst, und mein Hotelzimmer ist mein Zuhause. So war es damals auch, nach der Heirat mit Gisela. Als wäre es immer so gewesen. Vielleicht ist es deshalb so schwer, das Steuer herumzureißen.
Viele Menschen strömen zur Freilichtbühne, das Wetter ist phantastisch. Einige tragen Irokesen, aber die meisten sehen ganz normal aus, es gibt ein paar schwarze Lederjacken und viele Frauen mit Fächern. Die Sonne brennt, das Bier ist kühl, die Leute, der Großteil von ihnen Ende dreißig wie ich, hantieren mit Deorollern und batteriebetriebenen Miniventilatoren. Ich stelle mich seitlich vor die Bühne. Mein letztes Konzert ist Ewigkeiten her, aber daran, dass man am Eingang durchsucht wurde und Getränke abgeben musste, kann ich mich nicht erinnern.
Idol ist alt geworden, richtig alt, ich habe ihn quasi direkt vor der Nase, und auch seine sehnigen, ausformulierten Muskeln täuschen nicht darüber hinweg, dass ihn der Rock ’n’ Roll einige Jährchen gekostet hat. Für eine

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