Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
Vom Netzwerk:
Tante am Telefon, deren Name wie der einer polnischen Nachrichtensprecherin klingt und die mir was vom Pferd erzählt.
»Sorry, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, wer du bist.«
»Aber warum hast du mich dann angerufen?«
»Ich habe gehört, dass jemand auf der Suche nach mir war, und ich habe eine Telefonnummer bekommen.«
Sie schweigt. »Ach so. Ja, ich habe versucht, deinen Kompagnon zu finden. Dich natürlich auch.«
»Und wer bist du? Bitte, ich will nicht unhöflich sein, aber dein Name sagt mir wirklich nichts.«
»Die Schulfete. Wir waren in der zehnten Klasse, ihr in der neunten, glaube ich. Ich habe das Organisationskomitee geleitet. Ihr habt die Musik gemacht.«
Etwas klickert, Erinnerungsbilder schieben sich vor mein geistiges Auge. »Hattest du rote Haare?«
»Die habe ich immer noch.« Sie kichert. »Na ja. Inzwischen färbe ich ein wenig nach.«
»Und warum bist du auf der Suche nach uns?« Eigentlich will ich das überhaupt nicht wissen.
»Wir wollen ein Jahrgangstreffen veranstalten. Und wir dachten, weil das damals so schön war, könntet ihr vielleicht … wieder Musik machen.«
»Ach du je.«
»Ist das ein Nein?« Jetzt klingt sie enttäuscht.
»Nein, es ist nur … ich bin gerade erst wieder nach Berlin zurückgekommen, und ich bin selbst auf der Suche nach Kuhle. Ich habe lang nichts von ihm gehört.«
»Aha.«
»Wann ist denn eure Fete?«
»Ende August.«
»Ich habe ja deine Nummer. Ich melde mich wieder bei dir.« »Ja. Okay. Danke. Aber …«
»Ich hab jetzt leider keine Zeit. Bis später.«
»Warte. Ich habe da noch eine Telefonnummer. Ich bin vorgestern nur nicht mehr dazu gekommen. Die Kinder. Hast du Kinder? Die machen wirklich viel Arbeit. Ich könnte dir Geschichten erzählen.« Sie lacht.
»Nein, ich habe keine Kinder«, sage ich und versuche, nicht unhöflich zu klingen. »Und die zweite Nummer kannst du vergessen, das ist er auch nicht. Trotzdem danke.«
Bevor sie noch irgendwas erzählen kann, lege ich auf.
Komisch, dass sie nach mir und nach Kuhle suchen. Schließlich ist diese Sache mit Sabrina passiert, als Frau Deutsche-WellePolen noch an der Schule war.
Ich bin genauso weit wie vorher. Also muss ich versuchen, Sabrina zu finden, um wenigstens herauszukriegen, was damals wirklich passiert ist. Für den Namen Ergel gibt es nur einen Eintrag im Telefonbuch, die Adresse ist im Wedding, und sie kommt mir bekannt vor.

10. Egel
    Ein leicht schielender Mittdreißiger öffnet die Tür, er trägt eine Tchibo-Jogginghose und ein weißes T-Shirt mit dem Aufdruck »Ich bin doch nicht blöd«. Ich erkenne ihn nicht sofort, aber bevor er fragen kann, wer ich bin oder was ich will, erreicht mich die Erkenntnis doch:
    »Großer Gott, Egel. Du wohnst immer noch bei deinen Eltern?« Er starrt mich mit offenem Mund an, blickt dann an sich herab – das Outfit lässt kaum eine andere Erklärung zu, und er verwirft vermutlich genau deshalb den Gedanken, mich anzulügen. Stattdessen legt er die Stirn kurz in Falten, was ein klein wenig gekünstelt wirkt.
    »Tim, richtig?«
Ich nicke.
»Wie hast du mich genannt?«
»Egel. Den Egel. So haben dich doch alle genannt.« »Tatsächlich?« Er scheint ehrlich verblüfft, sogar etwas bestürzt.
    »Warum haben sie das getan?«
»Weil sie dich für eine Petze hielten. Und jemanden, der spio
niert und alle belauscht.«
Wieder öffnet er den Mund, schließt ihn aber gleich wieder. »Christian«, sage ich, die Pause reichte gerade, um den Namen,
den ich so gut wie nie benutzt habe, aus dem Gedächtnis zu kramen. Wäre er nicht Sabrinas Bruder, wäre es mir vermutlich nie
eingefallen.
Er nickt langsam und sehr traurig.
»Aha.«
Einen Moment stehen wir schweigend voreinander, schließlich
reiche ich ihm die Hand.
»Schön, dich zu sehen«, behaupte ich.
Sein Händedruck ist weich und zurückhaltend, ein wenig wider
willig.
»Was willst du von mir?«
»Überhaupt nichts. Ich bin auf der Suche nach deiner Schwester.«
»Sie wohnt hier nicht mehr, schon lange.«
Ich versuche ein Lächeln. »Das habe ich mir gedacht. Aber ihr
wisst doch sicher, wo sie zu erreichen ist.«
Er starrt ins Nirgendwo hinter mir an der Flurwand. »Komm doch rein«, sagt er endlich.
Die Wohnung riecht nach Linsen- oder Erbsensuppe, ein wenig
nach kaltem Rauch und nach etwas anderem, irgendwie Chemischem, das ich nicht einordnen kann. Ich höre einen Fernseher,
die Anfangsmelodie von irgendeiner Nachmittagsshow, Laienschauspieler vor Gericht, etwas in der Art.
Der Flur ist schwach beleuchtet,

Weitere Kostenlose Bücher