Geisterfahrer
Kneipen erkenne ich wieder, und ich freue mich, als wir am Café Alibi vorbeifahren.
»Nieder-Sengricht«, wiederholt Frank und lacht dabei.
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Wut oder Zorn ist es eigentlich nicht. Im Moment fühle ich mich vor allem frei. Sehr frei. Und ich bin immer noch fassungslos darüber, dass all das mir passiert ist.«
Frank nickt nur.
»Erstaunlich, aber es ist ein bisschen, als würde mir jemand eine Geschichte erzählen«, fahre ich fort. »Obwohl ich sie in den letzten sechzehn Jahren beinahe täglich gesehen habe, fällt es mir schon nach zwei Tagen schwer, mich an das Gesicht von Gisela zu erinnern.« Es gelingt mir tatsächlich nicht.
»Gisela«, sagt Frank und biegt nach rechts ab. Wir sind am Heinrich-Heine-Platz, auch hier war früher die Zonengrenze.
»Ich bin natürlich sauer, und ich überlege, was ich tun kann, um mich … zu revanchieren.« Das Wort »rächen« will ich nicht benutzen. »Aber tatsächlich bin ich in erster Linie froh. Erleichtert.«
»Ich würde der Alten den Hals umdrehen.«
»Daran habe ich im ersten Moment auch gedacht. Aber ich bin mir sicher, ihre jetzige Situation ist Strafe genug.«
Wir passieren eine Reihe renovierter, mit bunten Balkonen ausgestatteter Platten , dann folgen ein paar Bürohausneubauten, deren Fenster mit neonfarbenen »Zu vermieten«-Schildern übersät sind, der Fernsehturm am Alexanderplatz kommt in Sicht. Jannowitzbrücke. Hier war ich noch nie. Ich habe in den letzten dreißig Stunden mehr Neues gesehen als in den vergangenen sechzehn Jahren.
»Hast du etwas erreicht?«, fragt Frank.
Ich schüttle den Kopf. »Kuhle ist nicht zu finden, aber ich habe einen ehemaligen Klassenkameraden getroffen.« Meine Nackenhaare sträuben sich beim Gedanken an den Egel. »Ich weiß jetzt, wo die Frau wohnt, mit der es damals … mit der diese Sache passiert sein soll.« Es ist seltsam, Sabrina als Frau zu bezeichnen. Ich kenne sie als Mädchen. An ihr Gesicht kann ich mich erinnern.
»Hast du schon versucht, Pepe anzurufen?«
Ich bin verblüfft. Natürlich. Nach Pepe habe ich bisher nicht gefahndet. Verfluchter Pfeffer, wie lautete sein Nachname? Ich bin mir sicher, dass ich ihn kenne, komme aber nicht darauf. »Nee, aber das mache ich gleich morgen.«
Wir kreuzen den Alex schweigend, fahren am Roten Rathaus vorbei und ehemaligen Ost-Hotels, die jetzt Radisson oder ähnlich heißen. Einige hundert Meter weiter sehe ich meine erste Straßenbahn. Das Straßenbild wird uneinheitlicher, aber es sieht insgesamt aus wie in Charlottenburg oder Wilmersdorf. Viele Altbauten, Straßenbäume, begrünte Mittelinseln. Der Cinquecento röhrt, als würden wir den Mount Everest erklimmen.
»Bist du in Geldnot?«, frage ich.
Frank zuckt zusammen. Dann grinst er gequält. »Wie kommst du auf diese Idee?«
»Na ja. Es ist nicht zu übersehen, dass sich dein Lebensstandard geändert hat.«
»Man kann auch mit wenig glücklich sein.«
» Das habe ich auch nicht gefragt. Ich habe gefragt, ob du in Not bist.«
Frank dreht sich zu mir, sein Gesichtsausdruck pendelt zwischen traurig und genervt. Dann sieht er wieder nach vorne, es ist viel Verkehr.
»Ich könnte dir helfen«, sage ich. »Ich habe etwas Geld.«
Er sieht mich wieder an, seine Augen sind feucht.
»Laß uns da ein anderes Mal drüber reden, okay?«
Ich nicke, Frank parkt ein. Wir sind in der Eberswalder Straße angelangt.
Wir sitzen in einer riesigen, aber sehr gemütlichen Kneipe mit langem Namen – irgendwas mit »August« –, in der es mehrere Sofas und sogar ein Doppelbett gibt, auf dem Leute herumlümmeln, und ich trinke ein »Wernesgrüner«, ebenfalls eine Premiere.
»Was willst du eigentlich machen?«, fragt Frank, während er selbst etwas tut, das wir früher »abchecken« nannten.
»Kuhle finden«, sage ich. »Das weißt du doch.«
Er dreht sich zu mir, leicht verzögert; er hat eine sehr hübsche Brünette entdeckt. »Nein, ich meine beruflich. Du magst zwar ein bisschen Geld haben, aber irgendwann wirst du arbeiten müssen.«
Stimmt. Darüber habe ich mir überhaupt noch keine Gedanken gemacht.
»Ich habe IT-Erfahrung«, sage ich. »Aber eigentlich …« Es ist mir fast peinlich, das auszusprechen, zumal mir die Idee gerade erst gekommen ist.
»Eigentlich?«, fragt er, den Blick auf die Brünette geheftet.
»Ich würde verdammt gerne wieder auflegen.«
Ich habe Franks Aufmerksamkeit.
»Echt?«, fragt er.
»Mmh«, brumme ich zustimmend.
»Die Szene hat sich geändert. Klassische Discos gibt es nicht
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