Geisterfahrer
Sympathie ist vorüber. Ich atme auf
und hoffe, dass es nicht zu erleichtert klingt.
»Sei mir nicht böse, Christian, aber ich bin ein bisschen in Eile.« »Ach.« Er grinst.
»Was ist mit Sabrina? Wie kann ich sie erreichen?« Er geht zu seinem kleinen Schreibtisch, schreibt eine Telefon
nummer auf einen Haftnotizzettel.
»Sie wohnt in Frohnau, ist verheiratet und hat sogar ein Kind.«
Er sieht auf den Zettel, dann grinst er wieder. »Kuhlmann. Michael
Kuhlmann. Das war dein Busenkumpel damals, richtig?« Ich nicke.
»Sprich sie besser nicht auf ihn an.«
Er bringt mich zur Tür, sein Händedruck ist jetzt anders. Eine
Inszenierung, es war eine verdammte Inszenierung. Ich hasse mich
dafür, dass ich darauf reingefallen bin. Der Egel blinzelt mir zu. »Ich weiß, was sie macht.« Sein Gesichtsausdruck ist jetzt richtig gemein. Ich weiß, was und wen er meint, und bevor er noch
etwas sagen kann, sprinte ich den Flur hinunter, in Richtung Fahrstuhl.
»Arschloch«, sage ich, zu ihm, zu mir, als ich in den halbblinden Fahrstuhlspiegel sehe. Ich bin kurz davor loszuheulen.
11. Hepatitis
Heute bringe ich den Anruf bei Sabrina nicht mehr über mich. Stattdessen esse ich meinen allerersten Döner; damals, Anfang der Achtziger, war das türkische Fastfood verpönt, heute gibt es an jeder Ecke zwölf Buden, also muss etwas dran sein. Das Hammelsandwich schmeckt nicht schlecht, »Döner macht schöner«, hat der Mann am Spieß grinsend zu mir gesagt, und das ist ja auch was.
Ich wandere durch Neukölln in Richtung Hermannplatz und am düsteren Friedhof vorbei. Auf der anderen Straßenseite befindet sich das fast schon historische »Off«-Kino, das jetzt »Neues Off« heißt, aber immer noch wie damals aussieht, ich passiere Karstadt und wende mich nach Süden, schlendere die Sonnenallee hinunter. Viele Läden stehen leer, andere sehen trostlos aus, aber wenn ich eine Telefonkarte, Tipps für Tätowierungen, etwas Sonnenbankbräune oder noch mehr Döner wollte, wäre ich hier ganz weit vorne. Ich biege nach links ab, in den Nebenstraßen hat sich nichts verändert, bis auf einige Fassaden, die aufgepeppt wirken. Die Straße ist kopfsteingepflastert, ich erreiche das Ufer des Neuköllner Schifffahrtskanals, Menschen in Trainingsanzügen sitzen auf Bänken, andere starren rauchend Löcher in die Luft, während ihre Mischlingshunde kinderkopfgroße Haufen in die Rabatten platzieren.
Plötzlich habe ich die Orientierung verloren. Vor mir liegt eine parkartige Fläche, auf der anderen Straßenseite stehen neue oder grundrenovierte Häuser, dazwischen viel Grün, ein Doppeldeckerbus hält gerade. Irgendwas stimmt hier nicht.
Richtig.
Die Mauer fehlt.
Ich drehe mich zweimal um die eigene Achse, aber es gibt keinen Hinweis mehr darauf, dass sie auch an dieser Stelle die Stadt teilte.
Ein Auto hupt, ich stehe tatsächlich mitten auf der Straße, mache einen Satz rückwärts und drehe mich um. Eine alte Frau schlurft mit so kleinen Schritten auf eine Haustür zu, dass man kaum sieht, wie sie sich fortbewegt. Sie geht gebeugt, schiebt einen Rollator vor sich her, an dem zwei Aldi-Tüten hängen. Keine Ahnung, wo sich die nächste Filiale befindet, aber die Frau ist sicherlich schon eine ganze Weile unterwegs.
Dann erkenne ich sie.
»Hallo, Frau Stachel«, sage ich.
Sie hebt den Kopf und sagt: »Ich heiße Stagel.« Ihre Augen funkeln mich prüfend an, dann nickt sie bedächtig. »Der Herr Körner.«
»Köhrey.«
»Wohnen Sie noch hier?«
Ich sehe zu dem Haus. Die Rahmen der Fenster im Erdgeschoss
sind aquamarinblau angestrichen, an der Eingangstür hängt ein neonfarbenes Pappschild, ich lege den Kopf in den Nacken – keine weitere erkennbare Veränderung. Ich schüttle den Kopf und frage: »Aber Sie, oder?«
Sie nickt, und ich verspüre den Wunsch, ihren Kopf dabei zu stützen. Frau Stagel macht den Eindruck, jede Sekunde einfach auseinanderzufallen.
»Würden Sie mir helfen? Sonst brauche ich noch eine halbe
Stunde bis nach oben.«
»Aber sicher doch.«
Ich trage ihren Rollator mit den Tüten hoch, und als ich wieder
unten ankomme, hat sie gerade die vierte Stufe erklommen. »Sie sollten sich das nicht mehr antun.«
»Entweder ich sterbe hier oder überhaupt nicht«, sagt sie energisch und grinst dabei. Ich nicke, hake mich bei ihr unter und schleppe sie die Treppe hinauf. Es dauert trotzdem fast zwanzig Minuten, alleine würde sie vermutlich Stunden brauchen und nicht die halbe, von der sie gesprochen hat, die Luft im
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