Geisterfjord. Island-Thriller
gehört habe, würde wohl eher ein Glas Wein dazu passen. Irgendwas Stärkeres.«
Freyr merkte sofort, dass sie mit ihm flirtete, und lächelte zurück. Sie erinnerte ihn an eine Frau, mit der er mal eine kurze Affäre gehabt hatte, die er inzwischen allerdings bereute. Damals hatte er nicht das Recht dazu gehabt, aber jetzt war er in einer ganz anderen, besseren Situation, außerdem war die Krankenschwester eine viel nettere Ausgabe der anderen Frau und wirkte wesentlich unkomplizierter. Es war an der Zeit, sich mal wieder auf eine Frau einzulassen, und Dagný schien sich, was das betraf, immer weiter von ihm zu entfernen, auch wenn ihre Freundschaft fester wurde. Die Schwester war attraktiv, intelligent und, was am wichtigsten war, offenbar nicht abgeneigt. Vielleicht war ein normaler Kontakt zum anderen Geschlecht genau das, was er brauchte, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen.
»Auch nicht schlecht, abgemacht!«, sagte er und ging, wesentlich besser gelaunt als vorher, zu dem einzigen Krankenzimmer, aus dem Licht auf den Flur schien. Als er in der Türöffnung stand, bekam seine Beschwingtheit einen kleinen Dämpfer, da der alte Lehrer wieder eingeschlafen zu sein schien. Das Bett war hochgestellt, aber der Mann lag mit geschlossenen Augen und einem Kopfhörer im Ohr auf dem Kissen. Freyr hüstelte leise, um auf sich aufmerksam zu machen, falls er nicht schlief, sondern sich nur auf das Radioprogramm konzentrierte. Freyr war unglaublich erleichtert, als der Alte die Augen aufschlug. »Ich war mir nicht sicher, ob Sie wieder eingeschlafen sind. Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«
Der Mann klopfte auf den Bettrand und sagte laut: »Nein, Sie haben mich nicht geweckt. Kommen Sie rein. Ohne Medikamente schlafe ich nicht mehr viel.« Er nahm den Kopfhörer aus dem Ohr und senkte seine Stimme. »Was kann ich für dich tun? Es geht doch bestimmt um das Thema, über das wir letztens gesprochen haben. Ich hab ein bisschen darüber nachgedacht. Schon seltsam, wie gut man sich manchmal an Dinge erinnern kann, die ewig her sind, aber nicht mehr daran, was es zum Abendessen gab.«
»Das ist vielleicht nicht wichtig genug, um sich daran zu erinnern.« Freyr setzte sich neben das Bett. »Aber Sie haben richtig getippt. Ich habe mir auch Gedanken über den Jungen gemacht, von dem Sie mir erzählt haben, dieser Bernódus. Sein Name taucht immer wieder in Verbindung mit einem Fall auf, der, gelinde gesagt, ungewöhnlich ist und mit der Vergangenheit zu tun hat.«
Der Mann nickte nachdenklich. Sein Kopf bestand fast nur noch aus Knochen, und seine Haut erinnerte an weiches Wachs, als würde sein Gesicht schmelzen. »Das war alles sehr tragisch, aber ich kann mir nicht vorstellen, was das Schicksal des Jungen mit einem aktuellen Fall zu tun haben soll.« Er schaute Freyr an. Obwohl seine Tage gezählt waren, hatte er immer noch ein Leuchten in den Augen. »Es sei denn, man hat seine Leiche gefunden?«
Freyr schüttelte den Kopf. »Nein, so einfach ist es leider nicht.«
»Schade, ich war immer der Meinung, dass der Tod erst vollkommen ist, wenn die Gebeine des Verstorbenen in geweihter Erde bestattet werden«, entgegnete der Lehrer. Der kleine, weiße Stöpsel des Kopfhörers wirkte unpassend in seinen alten Händen. »Vielleicht, weil mein Vater im Meer ertrunken ist, als ich ein kleiner Junge war. Ich musste immer daran denken, wo seine Gebeine wohl sind, ob sie mit der Zeit im Sand auf dem Meeresboden verschwinden oder ob sie jemals gefunden werden. Ich war nur ein Kind, wissen Sie? Als ich älter wurde, ist es mir natürlich leichter gefallen, aber ich würde diese Welt trotzdem zufriedener verlassen, wenn er gefunden worden wäre. Aber das passiert wohl nicht mehr, hierzulande ruhen die Gebeine von Tausenden in einem feuchten Grab.«
»Glauben Sie, dass der Junge ins Meer gegangen ist? Ertrunken ist?« Auch wenn Freyr Mitleid mit ihm hatte, wollte er beim Thema bleiben, damit sich der Alte nicht von seinen Erinnerungen mitreißen ließ und eine alte Geschichte nach der anderen erzählte.
»Im Grunde weiß ich nichts darüber. Aber Ægir, der König der Meere, gibt nur selten einen Menschen aus seiner eiskalten Umarmung frei. Deshalb halte ich es nicht für unwahrscheinlich. Hier in der Umgebung gibt es keine Orte, die ein solches Geheimnis über einen längeren Zeitraum bewahren würden. Er ist jetzt seit fast einem halben Jahrhundert verschwunden, und es wurde keine unbekannte Kinderleiche hier in der Gegend
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