Geisterfjord. Island-Thriller
wahrscheinlichsten vorkam, und rechnete mit einer Bewegung. Als das Geräusch wieder ertönte, nahm sie keine Bewegung wahr – sie musste sich vertan haben. Das Geräusch kam nicht aus dem Haus, sondern von der Terrasse. Sie drehte den Kopf ein wenig nach rechts, um aus dem Fenster zu schauen.
Katríns Herz setzte aus, nur um anschließend so schnell weiterzuschlagen, dass sich ihre Brust auf und ab bewegte. Obwohl die Dunkelheit schwarz und dicht war, hatten sich ihre Augen so gut daran gewöhnt, dass sie eine fahle Hand auf der Fensterscheibe erkannte, mit gespreizten Fingern, so als wolle jemand mit einem Stift die Umrisse der Hand auf die Scheibe zeichnen. Die kleinen, dünnen Finger stammten von einem Kind, und obwohl es schwer war, Farben auszumachen, waren die Fingerspitzen deutlich dunkler als die Hand selbst. Die Farbe war unheimlich. Katrín wusste nicht genau, warum, aber es hatte nichts mit Schmutz zu tun, sondern mit etwas anderem, Schlimmerem. Putti schien die Hand auf der Fensterscheibe ebenfalls erblickt zu haben und winselte kläglich. Katrín versuchte krampfhaft, normal zu atmen, holte aber jedes Mal so tief Luft, dass diese ihre Lungen gar nicht mehr verlassen wollte. Der ekelhafte Fischgeruch war stärker geworden, und Katrín wurde langsam übel, als sie den Besitzer der Hand vor dem Fenster etwas murmeln hörte. Sie war kurz davor, sich die Ohren zuzuhalten und die Augen zuzukneifen, wieder die Sekunden zu zählen, bis Garðar und Líf wiederkommen oder die kalte, kleine Hand sie zurück ins Bewusstsein reißen würde, als sie plötzlich meinte, die Worte zu verstehen.
»Lauf, Kata, lauf.«
Katrín gab dem Drang nach, presste sich die Hände auf die Ohren und schloss die Augen. Sie wollte nicht wissen, was sie erwartete.
24. Kapitel
Der Mond spähte für einen kurzen Moment durch die dunkelgraue Wolkenwand, die den Nachthimmel fast ganz ausfüllte. Dabei konnte man die abgestorbenen Pflanzen auf dem Krankenhausgrundstück wieder dreidimensional sehen, aber nicht lange. Freyr, der fast eine Stunde aus dem Fenster seines Büros gestiert hatte, sah überall nur Schnee. Er hatte seinen Stuhl ans Fenster gezogen und saß mit dem Telefon auf dem Schoß da, ohne zu wissen, wem er sich anvertrauen sollte. Nach dem Gespräch mit Úrsúla, die sich am Ende wieder in ihre Schale zurückgezogen hatte, war er nicht viel schlauer als vorher. Sie hatte etwas angedeutet, das ihn vielleicht aus seinem inneren Konflikt hätte befreien können, doch anstatt mehr darüber zu erzählen, lag sie jetzt ruhiggestellt in einem Krankenzimmer. Bei ihrem momentanen Zustand war es unwahrscheinlich, dass sie ihm morgen eine große Hilfe sein würde, und was noch schlimmer war: Ihrer Krankengeschichte nach war es durchaus möglich, dass sie in den nächsten Jahren überhaupt nichts mehr sagen würde. Was hatte sie damit gemeint, dass Bernódus, der vor über einem halben Jahrhundert verschwunden war, wollte, dass Freyr Benni fände?
Anschließend hatte Freyr Hallas Mann angerufen, um ihn nach den Narben auf dem Rücken seiner Frau zu fragen, aber nicht die erhoffte Antwort erhalten. Der Mann war schockiert, obwohl Freyr die Form der Narben gar nicht beschrieb, und beschwerte sich über den späten Anruf. Freyr entschuldigte sich höflich, damit er sich wieder beruhigen und seine Fragen beantworten konnte, aber die Antworten waren nicht sehr erhellend. Am Ende des Telefonats war lediglich klar, dass Halla die Verletzungen vor ihrem Ehemann geheim gehalten und erzählt hatte, sie hätte einen Hautausschlag, als er sie nach den kleinen Blutflecken auf ihrem Nachthemd und dem Bett gefragt hatte. Ihr Mann meinte, die Hautkrankheit sei schon vor ein paar Jahren aufgetreten, konnte aber den genauen Zeitpunkt nicht nennen. Freyr sagte nichts, nahm aber an, dass es vor drei Jahren gewesen war – das würde zumindest ins Bild passen. Freyr wollte den Mann nicht misstrauisch machen und fragte nur vorsichtig nach, bekam aber immerhin heraus, dass Halla vorher nie Allergien gehabt hatte und dass der Ausschlag auf dem Rücken morgens am schlimmsten gewesen war. Der Mann wusste nicht genau wie schlimm, da sie ihren Rücken immer vor ihm verhüllt hatte, was er total übertrieben fand. Freyr verabschiedete sich schließlich von ihm, ohne ihm etwas über Kreuze oder einen todgeweihten Freundeskreis zu erzählen. Er sollte seine Frau in Frieden beerdigen können.
Als Freyr aufgelegt hatte, war er noch verwirrter. Halla schien sich
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