Geisterfjord. Island-Thriller
gefunden. Die Stadt ist ja nicht von Lava und Erdspalten umgeben, wo niemand unterwegs ist.«
»Könnte ihn jemand entführt, ermordet und an einem anderen Ort vergraben haben? Dann hätte man seine sterblichen Überreste auch nie gefunden.« Freyr fiel es schwer, den Satz auszusprechen, weil ihm diese Worte schon allzu oft in Verbindung mit seinem eigenen Sohn durch den Kopf gegangen waren.
Traurig schüttelte der alte Mann den Kopf. »Ich glaube, die Welt war damals besser, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass so was passiert sein könnte. Hier wohnt niemand – und hier wird auch hoffentlich nie jemand wohnen –, der sich so was zuschulden kommen lassen würde. Seinerzeit wurde hinter vorgehaltener Hand darüber geredet, dass sein Vater ihn, absichtlich oder unabsichtlich, tödlich verletzt und seine Leiche weggeschafft haben könnte. Er hatte eine lose Hand, wenn er wütend war. Ich hab das nie richtig geglaubt und diese Geschichten nicht verbreitet. Der arme Mann war meiner Meinung nach nicht ausgefuchst genug für so was. Er hätte den Jungen im Wohnzimmer verbluten lassen, bis er gefunden worden wäre. Für den gab es nichts Wichtigeres als Alkohol.«
»Ich habe alte Polizeiberichte über den Fall gesehen. Es hat eine umfangreiche Suche nach dem Jungen stattgefunden, aber ohne Erfolg. Die Berichte waren nicht sehr aufschlussreich, aber eine Sache ist mir aufgefallen: Die Mutter des Jungen wird nicht erwähnt. War sie verstorben oder Alkoholikerin wie der Vater und weggezogen? Es wäre ja für ein Kind in seiner Lage ganz typisch, sich aufzumachen, um die Mutter zu suchen, die in seiner Erinnerung vielleicht viel netter ist als in Wirklichkeit. Dabei könnte er draußen erfroren oder bei einem Unfall ums Leben gekommen sein. Es war doch Winter, oder?«
»Ja, es war sogar ein sehr harter Winter. Aber er ist nicht losgegangen, um seine Mutter zu suchen, die war zu dem Zeitpunkt schon tot.« Die Augenlider des Mannes sanken halb nach unten. »Sie war ein paar Jahre vorher gestorben, ist ertrunken, als sie versucht hat, Bernódus’ jüngeren Bruder vorm Ertrinken zu retten. Der Junge ist auf den zugefrorenen Fjord rausgelaufen und ins Eis eingebrochen. Die Mutter ist ihm nach, und beide sind umgekommen. Man sagt, Bernódus’ Vater hätte danach den Halt verloren und angefangen zu trinken. Er hat den Verlust einfach nicht verkraftet und konnte seinen Sohn, der das tragische Ereignis mitangesehen hat, nicht ertragen. Jemand hat mir mal erzählt, er hätte den Jungen dafür verantwortlich gemacht, weil er nicht eingegriffen hat. Das ist natürlich absurd, der Junge hätte seine Mutter und seinen Bruder nie retten können. Er wäre ihnen nur in ihr feuchtes Grab gefolgt. Ich weiß nicht, ob der Alkohol dem Mann diese Idee eingeimpft hat oder ob er sie vorher schon hatte. Jedenfalls hat er sich nie wie ein richtiger Vater um seinen Sohn gekümmert.« Er schloss die Augen ganz. »Seine Schande wird lange währen.«
Das musste Freyr erstmal verdauen. Bei so starkem Tobak war es angenehmer, mit der älteren Generation zu reden – da gab es öfter kurze Gesprächspausen. »Der Junge wird also von seinem trunksüchtigen Vater für den Tod seiner Mutter und seines jüngeren Bruders verantwortlich gemacht«, sagte er nachdenklich. »Was für eine schreckliche Kindheit.« Freyr beschlich der Verdacht, dass sich der Junge sogar umgebracht haben könnte. »Hatte er keine Großeltern oder anderen Verwandten, bei denen er unterschlüpfen konnte?«
»Die Familie stammte nicht von hier, ich habe nie was über andere Verwandte gehört. Der Unfall ist passiert, bevor die beiden hergezogen sind, ich habe die Mutter nie gesehen und kannte sie nicht. Sie haben in Hesteyri in den Jökulfjorden gewohnt, da sind Mutter und Sohn umgekommen.« Der alte Mann hob den Kopf ein wenig vom Kissen und drehte ihn zu Freyr. Die blauen Adern in seiner weißen, fast durchsichtigen Haut, waren unübersehbar. »Ich habe den Jungen nicht unterrichtet und die Geschichte nicht so mitbekommen, aber wir wussten alle von den katastrophalen Familienverhältnissen. Und dann noch sein tragisches Schicksal. Das war sehr schwierig für uns Lehrer. Und dann wurde kurz darauf auch noch in der Schule eingebrochen, das war wirklich ein hartes Schuljahr.«
»Wann genau war das?«
»Zehn Tage oder zwei Wochen nach Bernódus’ Verschwinden. Ich weiß es nicht mehr genau.«
»Hat man geglaubt, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen
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