Geisterfjord. Island-Thriller
das zweitälteste Foto und weiter und weiter und weiter, bis ihr klar wurde, dass das kein Missverständnis war. Sie schaute auf und starrte Líf in die Augen.
»Was? Ist es Garðar?« Líf war völlig entsetzt, aber auch verunsichert wegen Katríns unbewegter Miene. »Ist er tot?«
Katrín antwortete nicht und hievte sich auf die Beine. Die Schmerzen in ihrem Fuß waren ihr egal, sie spielten einfach keine Rolle mehr. Als sie stand, warf sie Líf die Kamera zu, die sie verwundert auffing. Katrín musste sich beherrschen, nicht hinterherzuspucken, und zischte nur: »Weißt du …« Ihre Stimme war ebenso kalt wie der Eiswürfel, der ihr Herz umgab. »Ich hoffe es wirklich.«
30. Kapitel
Freyr hatte das Gefühl, gerade erst die Augen zugemacht zu haben, als der Wecker von ihm verlangte, sie wieder zu öffnen. Immerhin hatte er vier Stunden geschlafen, das war gar nicht so schlecht. Er hatte nicht, wie befürchtet, wach gelegen und war im Schlaf auch nicht von Albträumen geplagt worden. Er war viel später ins Bett gegangen als beabsichtigt und völlig erschöpft in die Kissen gesunken. Saras Mails mit den Unterlagen, um die er sie gebeten hatte, waren plötzlich doch noch gekommen, als er gerade den Computer ausschalten wollte. Vielleicht wollte sie ihm damit den Schlaf rauben – er nahm es ihr nicht übel. Sie war total sauer auf ihn und würde es bestimmt noch eine Weile bleiben, vielleicht sogar für immer. Damit musste er leben, vielleicht war eine ehrliche Trennung besser als eine Freundschaft, die auf Lügen aufgebaut war. Unter jeder Mail stand derselbe Abschiedsgruß:
Fahr zur Hölle, du verdammtes Arschloch.
Sehr passend.
Wie so oft waren Freyrs Gedanken im Schlaf durcheinandergewirbelt. Nachdem er das Wichtigste von dem, was Sara ihm geschickt hatte, durchgesehen hatte, vermischten sich die Informationen zu einem zähen Brei. Er war weder in der Lage, Schlüsse zu ziehen oder etwas Vernünftiges aus der Vielzahl von Berichten herauszulesen, noch dazu, bei den Aufnahmen von der Tankstelle Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Warum sollte er auch nach all den Jahren etwas Bemerkenswertes entdecken, das die Polizei übersehen hatte? Das war natürlich Unsinn. Dennoch hatte er gewissenhaft sämtliche Filme abgespult, allerdings im Schnelldurchlauf; es war wie in einem Zeichentrickfilm, in dem die Leute nicht gingen, sondern wie Gänse hin und her wackelten und völlig willkürlich Auto fuhren. Aber Freyr hatte keine andere Wahl, er konnte sich nicht vier Stunden lang Aufnahmen von der Tankstelle in normalem Tempo anschauen.
Die Berichte las er jedoch genau. Er legte nur einen davon beiseite, die anderen enthielten nichts Neues. Dieser hinterließ jedoch ein mulmiges Gefühl. Es war die Zeugenaussage eines Jungen, der mit Benni Verstecken gespielt hatte, eines Jungen, der Freyr bei ihren wenigen Begegnungen seit Bennis Verschwinden nie in die Augen geschaut hatte, die Aussage des Jungen, der das U-Boot erwähnt hatte. Damals war Freyr zu sehr mit seiner Trauer beschäftigt gewesen, um groß darüber nachzudenken, aber jetzt hatte er durch den zeitlichen und räumlichen Abstand einen schärferen Blick. Er wusste nicht, ob er die Dinge, die er gelesen hatte, im Halbschlaf verarbeitet hatte, aber beim Aufwachen war ihm klar, dass einige Details in der Aussage des Jungen nicht passten, unauffällige Falschaussagen, die nur Eingeweihte überhaupt bemerken würden. Daher war es verständlich, dass die Polizei diese Unstimmigkeiten übersehen hatte. Gut möglich, dass Sara und er damals nicht alle Berichte erhalten hatten und dass sich die betreffenden Punkte in weiteren Gesprächen mit dem Jungen geklärt hatten. Aber Freyr wollte der Sache unbedingt auf den Grund gehen, bevor der Tag zu Ende war. Wie, wusste er noch nicht, aber er hatte genug Zeit, um es herauszufinden.
In der Nacht, während seine engstirnige Vernunft geschlummert hatte, war ihm noch etwas anderes klargeworden, und zwar bezüglich seines Auffahrunfalls an der Ártúnsbrekka am Tag von Bennis Verschwinden. Auf der Aufnahme von der Tankstelle war nur das Auto des Mannes zu sehen, den er angefahren hatte, aber nicht sein eigenes oder der Anhänger. Den hatte der Mann abgehängt und in die dritte Parkbucht geschoben. Sie hatten am Rand des Parkplatzes gestanden, an der einzigen Stelle, wo es mehrere nebeneinanderliegende Parkbuchten gab. Auf dem Film sah man den anderen Fahrer aus seinem Wagen steigen und aus dem Bild gehen, und Freyr wusste,
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