Geisterfjord. Island-Thriller
Lediglich der Schädel und die filigranen Knochen der Finger einer Hand waren zu sehen, der Rest des Skeletts war mit Kleidung bedeckt, die das Kind am Tag oder in der Nacht seines Todes getragen hatte. Auf dem Erdboden lagen Muscheln verstreut, die wie alles andere mit feinem Staub bedeckt waren. Freyr vermutete, dass es sich um Bernódus handelte, der vor so vielen Jahren verschwunden war. Der Junge, mit dem das Leben kein Mitleid gehabt hatte – und der Tod noch viel weniger. Das würde sich bestimmt später eindeutig bestätigen lassen. Freyr sagte nichts darüber zu Dagný, die ihn vom Boden aufscheuchte und sagte, er dürfte den Fundort nicht anrühren. Wahrscheinlich dachte sie etwas Ähnliches wie er.
»Seid ihr bald fertig?«, rief Freyr später in Richtung des Lochs, das aussah wie der Eingang zur Hölle. Im gelben Licht der Taschenlampen stiegen Staubstreifen aus dem Loch auf, als brenne unter ihren Füßen ein Feuer. Ab und zu gesellten sich scharfe Lichtblitze von den Fotoapparaten der Polizisten hinzu. »Sie muss so schnell wie möglich ins Krankenhaus.« Freyr konnte nicht genau sagen, was Líf neben den Schnitten im Gesicht noch hatte. Die waren zwar nicht lebensgefährlich, würden ihr zukünftiges Leben aber völlig auf den Kopf stellen. Sie war kochend heiß, ihr Puls war schwach, und sie hustete immer wieder Blut. Wahrscheinlich hatte sie innere Verletzungen, und wenn sie nicht bald behandelt wurde, konnte sie leicht daran sterben. Was allerdings genauso gut passieren konnte, wenn sie sofort in ein Krankenhaus käme.
Dagný und Veigar kletterten durch das Loch wieder nach oben, mit staubigen, zerrissenen Klamotten und ähnlich anzusehen wie der Hund, der immer noch auf dem Arm des Kapitäns lag. Dagný hatte die Tasche aus dem Keller in der Hand und legte sie vorsichtig auf den Küchentisch, so als fürchte sie, dass das Leder zerbröseln würde. »Wir sind fertig. Wie bringen wir sie am besten zum Boot?«
Freyrs Blick wanderte von der Tasche zu Dagný. »Wir müssen eine Trage bauen. Es wäre am besten, einen Hubschrauber zu rufen, aber ich glaube, mit dem Boot sind wir schneller. Ihr Zustand ist kritisch.« Er räusperte sich. »Wenn ihr das machen könnt, würde ich gerne einmal ums Haus gehen und die Klärgrube suchen. Ich kann hier nicht weg, bevor ich weiß, ob ich recht habe.«
Dagný starrte ihn an und sagte: »Dann komm, hier läuft niemand alleine rum.« Sie drehte sich zu Veigar und dem Kapitän. »Könnt ihr euch um die Trage kümmern?«
Die Männer bejahten, und Dagný und Freyr gingen mit Taschenlampen bewaffnet hinaus in die Nacht. Als Freyr aus dem Haus trat, hatte er wieder dasselbe Gefühl wie vorher, dass ihnen jemand folgte, aber es wurde schwächer, als sie losgingen. Vielleicht weil er sich nur noch auf die Umgebung konzentrierte – im Grunde war es ihm egal, ob irgendetwas die Nacht mit ihnen teilte. Er musste an andere Dinge denken. Dagný wirkte jetzt äußerst angespannt, als hätten sie die Rollen getauscht. Sie riss die Taschenlampe ständig hin und her, so als suche sie nach einem verlorengegangenen Kätzchen, das nicht stillsaß.
»Glaubst du, dass wir die beiden anderen noch finden?«, fragte Freyr. Er wollte reden, musste reden, um nicht den Verstand zu verlieren. Er fühlte sich wie in einer gigantischen Achterbahn, die immer weiter anstieg, bis der höchste Punkt erreicht war. Und von dort hinunterstürzte. »Ich habe aus Líf rausgekriegt, dass der Mann, dieser Garðar, gestern oder vorgestern verschwunden ist. Sie wusste nicht, welchen Tag wir heute haben und wie lange sie in der Küche gelegen hat. Ich glaube allerdings, dass es noch gar nicht so lange her ist, seit ihr die Verletzungen zugefügt wurden. Höchstens ein paar Stunden.«
Dagný schien froh über die Unterhaltung zu sein und bewegte ihre Taschenlampe weniger hektisch. »Hast du sie gefragt, was passiert ist? Wer sie angegriffen hat?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob sie weiß, was sie sagt, aber sie hat was von einem Jungen gefaselt. Ich konnte keinen Namen und keine genaue Beschreibung aus ihr rauskriegen. Sie meinte, er hätte diese Katrín angegriffen und sie tot aus dem Haus geschleift. Die Schnitte in ihrem Gesicht haben die Nerven, die für die Mimik zuständig sind, durchtrennt. Beidseitig. Ihr Gesicht ist gelähmt, und sie hat Schwierigkeiten zu sprechen.« Er erzählte nicht, dass er Líf nach dem Insulin gefragt hatte. Da er nicht wusste, ob sie überleben würde, war das die
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