Geisterfjord. Island-Thriller
zwecklos gewesen. Das Gefühl, ihre leblosen Lippen auf seinen zu spüren, war ihm fast zuwider gewesen.
»Freyr.« Dagný hockte sich vor ihn. »Wir sind gleich da. Wie geht es dir?«
»Okay.« Das war eine Lüge, und sie wussten es beide.
»Dein Sohn wird morgen früh sofort geholt. Ich kümmere mich darum.« Er entgegnete nichts, aber das war auch nicht nötig. »Ich habe mir die Tasche angeschaut. Sie gehört Bernódus.« Eine große, mächtige Welle brachte Dagný fast zu Fall, aber sie hielt sich an Freyrs Knien fest und kam wieder ins Gleichgewicht. »Der Inhalt ist einigermaßen gut erhalten, und ich habe ein Schreibheft gefunden, in dem er sich nach seinem Verschwinden Notizen gemacht hat.« Als Freyr nicht reagierte, sprach sie weiter. »Er beschreibt, was ihm passiert ist. Es ist ziemlich eindrucksvoll. Ich lasse es später für dich kopieren, wenn du willst.«
Freyr nickte. Vielleicht würde er es irgendwann einmal lesen, vielleicht auch nicht. Im Augenblick wollte er nur alleine sein. Alleine.
Er spürte Bennis Gegenwart nicht mehr und war sich ziemlich sicher, dass er Sara nicht mehr im Traum erscheinen würde. Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass sie es vermissen würde. So wie er es bereits vermisste.
Úrsúla weinte still. Salzige Tränen rannen über die Wunden unter ihren Augen, die noch nicht verheilt waren. Es musste brennen, aber sie zeigte keinen Schmerz. »Er ist weg.« Sie knetete ihre sehnigen Hände. »Er ist nicht mehr hier.«
»Ist das eine gute Beschreibung dessen, was passiert ist, Úrsúla? Erinnern Sie sich daran?«, fragte Freyr und legte die Kopie, die er ihr gerade vorgelesen hatte, beiseite. Er hatte sie, einen Tag nachdem sie aus Hesteyri zurückgekehrt waren, von Dagný bekommen. Am nächsten Morgen, nach einer schlaflosen Nacht, hatte er sie direkt angerufen, hatte das Heft lesen wollen, bevor sie mit einem Suchtrupp erneut nach Hesteyri fahren würde, um nach dem verschollenen Paar zu suchen und Bennis und Bernódus’ Leichen in die Stadt zu bringen. Leider hatte sich die Aktion wegen des schlechten Wetters um einen Tag verzögert, deshalb war der Suchtrupp jetzt dort, vermutlich vollauf damit beschäftigt, seine Arbeit vor Einbruch der Dunkelheit abzuschließen. Er hoffte, dass sie seinem Sohn Respekt zollen und seine weißen Knochen sanft behandeln würden. Er hätte sich am liebsten selbst darum gekümmert, hatte darum gebeten mitzudürfen, hatte alles versucht, hätte sich fast vor Dagný auf die Knie geworfen und sie angefleht, aber sie war hart geblieben.
»Sie wollten nicht mit mir befreundet sein und haben nur so getan als ob. Nachdem Bernódus verschwunden war, haben sie mich wieder so behandelt wie vorher. Scheußlich.« Úrsúla knetete ihre Hände noch eifriger, so als wolle sie ihre Finger zu einem Zopf flechten. »Er war mein einziger Freund, und sie haben mich dazu gezwungen, ihn zu verraten. Haben mir versprochen, dass ich dann zu ihnen gehören würde. Zu den beliebten Kindern. Den hübschen Kindern.« Ihre Hände standen still. »Sie haben es nicht ernst gemeint, haben einfach gelogen. Als er verschwunden war, war wieder alles wie vorher.«
Freyr wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte ihr nicht den ganzen Text vorgelesen, hatte die letzten Worte weggelassen, in denen der Junge Rache schwor und den, der den Text fände, bat, dafür zu sorgen, dass alle ihre gerechte Strafe bekämen, besonders Úrsúla. Und so war es tatsächlich gekommen, alle Kinder, deren Namen er nannte, hatten als Erwachsene gelitten, und die Lehrerin, die seine Verzweiflung ignoriert hatte, am allermeisten. Der Vater war der Einzige, den Bernódus verschont hatte, was typisch für die Loyalität eines Kindes gegenüber seinen Eltern war. Doch abgesehen von der Rachelust und der Wut des Jungen, waren die Ähnlichkeiten zu Bennis Schicksal erstaunlich. So erstaunlich, dass Freyr nicht darüber nachdenken konnte, noch nicht. Vielleicht würde er das später tun, wenn er sich wieder mit dem Leben ausgesöhnt hatte, was noch wie ein ferner Traum schien.
»Kinder können so unbarmherzig sein, Úrsúla. Aber das lässt mit dem Älterwerden nach, und wer weiß, ob Sie sich nicht später gut mit ihnen verstanden hätten, wenn Sie nicht krank geworden und nach Reykjavík gezogen wären«, sagte er.
»Ich hätte es sagen müssen. Aber ich habe mich nicht getraut. Die anderen haben gedroht, mir an den Kragen zu gehen, der Polizei zu erzählen, dass ich dafür
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