Geisterfjord. Island-Thriller
verantwortlich bin, nicht sie. Wer hätte mir denn geglaubt?«
Freyr machte sich bereit zu gehen, faltete das Blatt zusammen und steckte es in Úrsúlas Krankenakte – Bernódus’ Geschichte zwischen Diagrammen und Angaben zur Medikation einer alten Frau, die schon vor langer Zeit ihren Realitätssinn verloren hatte. Vielleicht nicht verwunderlich. Ihr kranker Geist hatte Schwierigkeiten, mit dem zu leben, was damals geschehen war. Mitanzusehen, wie ihre neuen Kameraden einen Jungen, mit dem sie eng befreundet war, peinigten und verhöhnten, ihm Schimpfwörter hinterherriefen, er sei hässlich und schmutzig, ihm Spitznamen gaben, weil er nach dem Sportunterricht nicht unter die Dusche gehen wollte. Und dann entdeckten sie noch etwas, womit sie ihn hänseln konnten. Sie verhöhnten ihn, weil er so arm war, dass sein Vater kein Geld für Kreuze auf dem Grab seiner Mutter und seines Bruders hatte und sie ihm deshalb in den Rücken geschnitten hatte. Als er versuchte, den Hänseleien zu entkommen, verfolgten sie ihn. Die Verfolgungsjagd endete am Hafen in einer Sackgasse, wo ihm nichts anderes übrigblieb, als auf ein Boot zu klettern, das gerade abfuhr. Die Kinder standen am Ende der Brücke und sahen das Boot wegfahren, während sich der Junge unter der Persenning und einem Stapel Netze versteckte, aus Angst, dass der Seemann ihn entdecken und zurück auf die Brücke schicken würde. Das Schlimmste für ihn war, Úrsúla von seinem Versteck aus zwischen seinen Peinigern stehen zu sehen und begreifen zu müssen, dass sie bei dem abscheulichen Spiel mitgemacht hatte, anstatt ihm zu helfen.
Das Boot fuhr nach Hesteyri, und als der Mann von Bord gegangen war, um irgendetwas zu erledigen, beschloss der Junge, sich an Land zu schleichen, die Kreuze vom Grab seiner Mutter und seines Bruders zu holen und den anderen Kindern zu zeigen, dass sie unrecht hatten. Während er sich damit abmühte, sie aus der Erde zu ziehen, legte das Boot wieder ab und ließ ihn alleine in dem verlassenen Dorf zurück, wo er einst gewohnt hatte. Mitten im Winter in einem menschenleeren Dorf, das niemand regelmäßig besuchte.
Lange Zeit hoffte er, abgeholt zu werden, dass eines der Kinder, die ihn hatten wegfahren sehen, jemandem Bescheid sagen und dass die Polizei herausfinden würde, wohin das Boot gefahren war. Er lebte von Muscheln, die er am Strand fand, denn er hatte keine Angel und konnte keine bauen. Er richtete sich in seinem alten Haus ein, weil er sich nicht traute, in andere Häuser einzubrechen. Die Kälte, die immer härter wurde, veranlasste ihn, im Keller Zuflucht zu suchen, wo es am wärmsten war, doch das brachte nicht viel. Die Kälte fand ihn und ließ ihn nicht mehr los, bis er tot war. Davon stand natürlich nichts in dem Text, aber die Beschreibung, wie die Finger seiner linken Hand schwarz wurden, ließ darauf schließen, dass er erfroren war. Ohne ärztliche Hilfe waren eine Blutvergiftung und der Tod meist nicht weit, wovon die leeren Seiten am Ende des Hefts auf erschütternde Weise zeugten.
»Warum wurde er nicht früher gefunden?« Úrsúlas Stimme war brüchig und heiser, denn es war lange her, seit sie so viel geredet hatte. Es war, als würde ihr eine schwere Last von der Seele genommen. Sie schien es selbst zu merken und hätte auch sagen können:
Was, wenn er vor dreißig Jahren gefunden worden wäre? Oder vor vierzig? Hätte ich dann ein normales Leben gehabt?
»Das Haus stand leer und wurde jahrzehntelang von niemandem betreten. Bis vor drei Jahren, da war es zeitweise wieder bewohnt. Aber der Besitzer hat sich wohl nicht besonders gut umgeschaut, er hat Holzdielen über die Luke gelegt, und es hätte nicht viel gefehlt und der Junge hätte noch viel, viel länger dort gelegen.«
»Er ist in der Nacht, als er starb, in die Schule eingebrochen. Es war Rache aus dem Jenseits. Da wusste ich, dass er tot ist, weil er mir zum ersten Mal erschienen ist. Seitdem habe ich ihn ständig gesehen. Und gehört.« Sie schaute Freyr in die Augen, verwundert, darin nicht demselben Misstrauen zu begegnen wie in all den Jahren. »Aber jetzt ist er weg und kommt nicht mehr wieder. Vielleicht wollte er gefunden werden.«
»Vielleicht.« Freyr wollte die Frau nicht unterbrechen, da sie das erste Mal, seit er mit ihr zu tun hatte, zusammenhängend redete. Falls so etwas Merkwürdiges überhaupt möglich war, war derselbe Junge dann auch in den Kindergarten eingebrochen? Und warum? Wenn Freyr seiner Phantasie einen Moment
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