Geisterfjord. Island-Thriller
erwähnt hatte. Vielleicht hatte dieses kurze, seltsame Gespräch größeren Einfluss auf sie gehabt, als sie zugeben wollte, und vielleicht tat sie sich deshalb mit diesem Ort so schwer.
Katrín konzentrierte sich wieder auf die Engelwurz. Sie wollte nicht, dass die Phantasie mit ihr durchging. Das hier war Garðars Traum, zumindest im Moment, und sie wollte ihn und sich mit solchem Quatsch nicht beunruhigen. Sie riss eine tote Pflanze nach der anderen heraus und hatte bald einen ganzen Arm voll. Aber das würde nicht lange reichen, wenn man es zusammenpresste, also legte sie den Stapel neben den Kessel und holte noch mehr. Sie entfernte sich vom Haus und folgte dem Trampelpfad, der durch das Brachland führte. Sie hatte schon ziemlich viel gesammelt, als sie in einer tiefen Mulde etwas Schneeweißes sah. In der Senke war das Gestrüpp noch dichter, und um besser sehen zu können, musste Katrín sich bücken und welke Halme und totes Unkraut beiseiteschieben. Plötzlich wich sie zurück und verlor die ganze Engelwurz, die sie gesammelt hatte. Was zum Teufel war das? »Garðar! Líf! Kommt mal! Das müsst ihr euch ansehen!«
4. Kapitel
»Lass uns später darüber reden, Sara.« Freyr hätte am liebsten aufgelegt und so getan, als sei die Verbindung abgerissen. Er war ans Telefon gerufen worden, aber das Letzte, was er an einem langen Arbeitstag gebrauchen konnte, war ein Gespräch mit seiner Exfrau. Am allerwenigsten auf der Station, wo die Kollegen ein und aus gingen. Dieses Thema ließ sich einfach nicht besprechen, ohne dass ungewollte Zuhörer die Ohren spitzten. Aber im Moment war er alleine und wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen, bevor der Nächste hereinkam. »Du weißt ja, was ich von diesen Telefonaten auf der Arbeit halte.« Er hätte noch hinzufügen können, dass er ihre Telefonate immer grässlich fand, aber sie war labil, und er wollte sich nicht im Streit von ihr verabschieden.
Durch den Hörer drang hektisches Atmen. »Aber du hörst mir nicht zu. Wenn du mir zuhören würdest, bräuchte ich mich nicht ständig zu wiederholen«, sagte sie mit jammerndem Tonfall und hoher Stimme.
Freyr schloss die Augen und massierte seine Augenlider. Er bekam schon wieder dieselben Kopfschmerzen wie in ihrem letzten gemeinsamen Jahr – ein drückendes Pochen an den Schläfen, gegen das kein Schmerzmittel half. »Ich höre, was du sagst, Sara. Ich glaube nur nicht an so was, und das weißt du. Aber danke, dass du es mir mitgeteilt hast.« Der letzte Satz war gelogen. Er hätte sich gewünscht, dass sie den Traum von ihrem Sohn und die Botschaft aus dem Jenseits für sich behalten hätte.
»Da, wo er jetzt ist, geht es ihm schlecht.« Nun konnte man hören, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde.
»Sara.« Freyr massierte seine Augen noch eifriger. »Du musst damit aufhören. Wir können nichts mehr tun und haben damals alles getan, was in unserer Macht stand. Du musst dich mit der Realität abfinden. Benni kommt nicht zurück.« Seine Stimme zitterte leicht, er ließ die Hand sinken und riss die Augen weit auf. Diese fixe Idee von ihr hatte die Wunde in seinem Herzen schon so oft wieder aufgerissen. Wenn er Sara nicht verlassen hätte, hätte er sich am Ende wahrscheinlich totgesoffen oder sonstwie kaputtgemacht. Er sehnte sich mehr als alles andere danach, die Trauer auf seine Weise verarbeiten zu dürfen und nicht ständig von Saras Wahn dabei gestört zu werden. Bevor er ausgezogen war, hatte er sich davor gefürchtet, von der Arbeit nach Hause zu kommen, und sich angewöhnt, so lange wie möglich zu arbeiten. Das machte er sogar jetzt noch, was einiges über sein ungemütliches Zuhause in einer Stadt, die er nach einem halben Jahr kaum kannte, aussagte. »Du musst dich endlich mit der Realität abfinden, nicht nur deinetwegen. Und jetzt muss ich Schluss machen.«
»Er ist im Traum zu mir gekommen. Benni geht es nicht gut, er will, dass du ihn findest.«
Freyr unterdrückte einen Aufschrei. »Danke, wir reden später miteinander.« Er legte auf. Durch seinen Kopf schossen dieselben Fragen, die ihn die meisten Nächte wach hielten. Wie konnte ihr sechsjähriger Sohn am helllichten Tag spurlos verschwinden? Wo war er? Warum war er nie gefunden worden? Freyr stand auf und starrte einen Moment auf das hässliche, klobige Telefon, als wüsste es die Antwort.
Der eingefallene Körper des alten Mannes wurde von Husten geschüttelt. »Soll ich Ihnen was gegen den Husten geben?«,
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