Geisterfjord. Island-Thriller
Papierstapel auf den Boden fegen. »Was meinst du, wie lange das dauert?«
»Eine oder zwei Wochen«, sagte sie resigniert. »Wenn die öffentlichen Behörden ihr Eigentum versichern würden, wäre das ein Versicherungsfall, und die würden ihre Untersuchungen an unsere anschließen. Aber so ist es nicht, und deshalb sieht es ganz so aus, als würde der Fall von unserer Seite aus schnell ad acta gelegt, es sei denn, es passiert noch was, oder wir kriegen was über das Tatmotiv raus. Du kannst dir ja wohl vorstellen, dass niemand alte Akten durchsucht nach …« Sie schwieg einen Moment und versuchte, ihre Gedanken in Worte zu fassen. »Tja, ich weiß eigentlich nicht wonach.«
Freyr entgegnete nichts. Er hatte selbst keine Ahnung, wie ihnen sechzig Jahre alte Polizeiakten heute noch helfen sollten. Während er auf seinem harten, unbequemen Stuhl herumrutschte, wurde ihm klar, dass Dagný recht hatte: Das Vergehen war nicht so schwer, dass es umfangreiche polizeiliche Ermittlungen geben würde. Die Schrift an der Wand würde mit Farbe überpinselt, die Beschädigungen repariert, und die Sache wäre aus der Welt. Er beschloss, sich nicht weiter einzumischen – schließlich würde er es auch nicht gut aufnehmen, wenn Dagný ihm medizinische Anweisungen gäbe. Er hatte ihr die Geschichte erzählt, mehr konnte er nicht tun. »Ist heute Morgen noch was Ernstes vorgefallen? Ihr hattet es plötzlich so eilig.«
Dagný verzog das Gesicht und strich sich nachdenklich übers Kinn. »Ach, ich kann es dir ruhig erzählen, du hörst es ja sowieso morgen auf der Arbeit. Ich dachte, du wüsstest es schon.«
»Was denn? Ich hab heute nichts Besonderes gehört.« Freyr hatte sich absichtlich in die Arbeit gestürzt, um den schlechten Einfluss des Telefonats mit Sara zu verdrängen und überhaupt nichts vom tagtäglichen Klatsch mitbekommen.
»Letzte Nacht hat sich in Súðavík eine Frau das Leben genommen. Der Pfarrer hat ihre Leiche heute Morgen in der Kirche gefunden. Da mussten wir hin.«
»Jung?« Freyr hoffte, dass es nicht so wäre, zumal Selbstmord bei Jugendlichen manchmal eine ganze Welle auslöste.
»Nein, eine ältere Frau.« Dagný nahm das oberste Blatt von dem Stapel auf ihrem Tisch. »Sie war neunundsechzig.« Sie blickte zu Freyr. »Vielleicht konnte sie sich nicht mit dem Rentnerdasein abfinden. Manche Leute leben nur für ihre Arbeit. Oder sie war ernsthaft krank und wollte nicht leiden.«
Freyr nickte nachdenklich. Im ersten Moment war er überrascht, dass es sich um eine Frau handelte, aber das war naiv. Auch wenn nur ein Viertel der Selbstmörder in Island Frauen waren, konnte ein solcher Fall durchaus in den Westfjorden vorkommen. Es gab landesweit siebzig bis achtzig Selbstmorde pro Jahr, die meisten davon in Reykjavík und Umgebung, und vielleicht war der Westen statistisch gesehen an der Reihe. »Die Zahl der Selbstmorde steigt proportional mit dem Alter, aber ohne mich mit dem Fall näher vertraut gemacht zu haben, glaube ich nicht, dass das Ende des Berufslebens hier mit reinspielt. Damit haben meistens Männer Probleme. Vielleicht kennt die Familie ja den Grund«, sagte Freyr und zog den Reißverschluss seiner Jacke auf. »Es wäre allerdings interessant zu wissen, warum sie sich ausgerechnet die Kirche ausgesucht hat. Die meisten Leute bringen sich zu Hause um oder in der freien Natur, wenn sie ihre Angehörigen vor dem zusätzlichen Schock bewahren wollen, ihre Leiche zu finden. Der Ort ist ziemlich ungewöhnlich.«
»Vielleicht war sie überzeugte Christin und wollte bei Gott sein, wenn sie stirbt. Sie war aber nicht fanatisch gläubig oder so, das hat uns ihr Mann erzählt. Er könnte natürlich lügen oder selbst extrem gläubig sein und die Sache anders beurteilen als wir.«
»Sie war also verheiratet?«
Dagný nickte. »Ja, und dreifache Mutter. Fünf Enkelkinder. Ein paar von ihnen sind zwar nach Reykjavík gezogen, aber sie war nicht allein.«
»Konnte ihr Mann keinen Grund angeben? War er überrascht?«
»Ja, scheint so. Er ist sehr verzweifelt und scheint nicht die geringste Vorahnung gehabt zu haben. Falls er was über Depressionen oder andere Krankheiten wusste, wollte er uns das zumindest nicht sagen. Er hat nur erwähnt, dass sie in der letzten Zeit ein bisschen nervös und menschenscheu war, aber nichts Besorgniserregendes. Irgendeine unerklärliche Anspannung, die einen manchmal überkommt und dann von alleine wieder verschwindet.« Dagný schaute Freyr in die Augen. »Nur
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