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Geisterfjord. Island-Thriller

Geisterfjord. Island-Thriller

Titel: Geisterfjord. Island-Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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wurden, mehr Gewicht hatten als humanitäre Prinzipien.
    »Es ist ganz normal, dass Sie eine gewisse Zeit brauchen, um sich an einen neuen Ort zu gewöhnen. Sie fühlen sich bestimmt bald hier in Ísafjörður wohl«, sagte er.
    »Nein.«
    Die Antwort war so eindeutig, dass Freyr ihr lieber nicht widersprach. »Und Sie wissen ja, dass ich immer in der Nähe bin und Sie mich rufen lassen können, wenn Sie wollen. Die Pflegerinnen sind auch immer da, und wir tun alles, damit es Ihnen gutgeht.« Er drehte sich zu der Altenpflegerin um. »Ich glaube, das reicht für heute.« Er legte seine Hand auf Úrsúlas Handrücken und spürte, wie sie sich bei der Berührung verkrampfte. Ihre trockene Haut fühlte sich eiskalt an. Der geringe Prozentsatz an Patienten, die bei einer schweren psychischen Erkrankung Hoffnung auf Besserung hatten, war ziemlich deprimierend. Úrsúla hatte zum Beispiel ihr ganzes Leben lang geglaubt, dass sie bedroht und verfolgt würde und dass ihr jemand etwas antun wolle. Sie ließ sich einfach nicht von dieser fixen Idee abbringen und fürchtete ohne Medikamente ständig, von einer irrationalen Macht überfallen zu werden. Ihre Krankenakte war Hunderte von Seiten lang und eine traurige Lektüre, ein schlimmeres Leben war kaum vorstellbar. Nächstes Jahr hatte sie einen runden Geburtstag und wurde siebzig, aber dieses Ereignis würde zweifellos genauso unauffällig verlaufen wie alle anderen Dinge in ihrem Leben – ein Stück Kuchen von den Mitarbeitern, die vielleicht noch ein Geburtstagslied sängen. Freyr schärfte sich ein, daran zu denken, ihr ein schönes Geschenk mitzubringen, über das sie sich freuen würde. Er hatte ein paarmal gehört, dass sie es bedauerte, nicht konfirmiert worden zu sein, und sich immer darüber gewundert, warum ihr seinerzeit niemand diesen Wunsch erfüllt hatte. Vier Monate vor ihrer Konfirmation war sie zum ersten Mal eingeliefert worden, und obwohl sie krank und oft verwirrt war, hatte sie offenbar gehofft, die Zeremonie mitmachen zu können, sich bestimmt schon lange darauf gefreut, wie Jugendliche es damals nun mal taten. Vielleicht war es ein kleiner Ersatz, jetzt etwas für die Frau zu machen, da ein festliches Ereignis vor der Tür stand.
    »Sie nimmt klaglos ihre Medikamente.« Die Pflegerin hatte Freyr nach draußen begleitet. »Ich habe schon den Eindruck, dass es funktioniert. Solange sie keinen schlimmen Anfall bekommt. Wir können sie natürlich nicht den ganzen Tag bewachen, aber wir schauen regelmäßig bei ihr rein und setzen uns so oft wie möglich zu ihr. Man hätte ein besseres Gefühl, wenn es hier eine Nachtwache gäbe, aber solange sie abends die Schlaftabletten nimmt, ist das wohl nicht nötig.«
    Freyr nickte. In Ísafjörður gab es keine Wohngruppe, in die die Frau hätte einziehen können, und das Altenheim war der einzige Ort, der in Frage kam. Die Mitarbeiter kümmerten sich auch um die mobile Krankenpflege in Ísafjörður und den Nachbardörfern und hatten auch ohne eine Bewohnerin, die jahrelang in der Psychiatrie gewesen war, schon genug zu tun. Freyr wusste, dass dieser Umzug großen Anteil daran gehabt hatte, dass er im Bezirkskrankenhaus eingestellt worden war. Es gab in Ísafjörður und im ganzen Bezirk keinen Psychiater, und für einen Allgemeinmediziner war es schwierig, der Patientin gerecht zu werden. Nach seiner Ankunft in Ísafjörður hatte er die Aufgabe bekommen, für die wenigen Mitarbeiter des Altenheims einen Lehrgang über die Behandlung von psychisch Kranken durchzuführen, und auch wenn der nicht mit einer mehrjährigen Ausbildung zu vergleichen war, trug er Früchte. Aber das war nicht unbedingt ihm zu verdanken – die Mitarbeiter hatten sich sehr bemüht, zum Gelingen der Sache beizutragen, und großes Interesse gezeigt.
    Nachdem sie besprochen hatten, wann er morgen kommen würde, und sich voneinander verabschiedet hatten, ging Freyr zu seinem Wagen. Bevor er einstieg, schaute er am Gebäude hoch und sah Úrsúlas Gesicht in dem Fenster, vor dem sie immer saß. Ohne jegliche Gefühlsregung. Sie starrte ihn an und beobachtete jede seiner Bewegungen. Verwundert blieb Freyr einen Moment stehen, und ihre Blicke trafen sich. Er hob die Brauen, als die Frau den Mund öffnete und durch die doppelte Fensterverglasung mit ihm redete. Sie schien sich nicht daran zu stören, dass er sie gar nicht hörte, und redete immer noch, als er wegschaute und ins Auto stieg. Bis jetzt war sie in seiner Anwesenheit immer ziemlich

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