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Geisterfjord. Island-Thriller

Geisterfjord. Island-Thriller

Titel: Geisterfjord. Island-Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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schweigsam gewesen und hatte nur ein paar kurze Sätze geäußert. Solche Monologe wie eben hatte sie noch nie gehalten. Freyr hatte keine Ahnung, was der Auslöser dafür war, wusste aber aus Erfahrung, dass Verhaltensänderungen nichts Gutes bedeuteten. Vielleicht geriet sie wieder aus dem Gleichgewicht. Auf dem Weg vom Parkplatz rief er die Altenpflegerin an, erzählte ihr von seinen Befürchtungen und bat sie, die Frau im Auge zu behalten. Er wollte sich gar nicht ausmalen, dass den gewissenhaften Mitarbeitern etwas Ähnliches widerfahren könnte wie damals, als Úrsúla auf dem rechten Ohr ihr Hörvermögen verloren hatte, nachdem sie sich eine Stricknadel ins Ohr gesteckt hatte. Das war vor vier Jahren gewesen, und Freyr hatte es nur in den Berichten gelesen, aber das reichte ihm. Úrsúla hatte eine Stimme zum Schweigen bringen wollen, die ihr Drohungen ins Ohr flüsterte, eine Stimme, die keinen realen Ursprung hatte und daher auch im Magen oder in den Zehen auftauchen konnte. Der Versuch, sie zu bekämpfen, konnte ziemlich blutig sein. Es gab jedenfalls allen Grund zur Wachsamkeit.
    Freyrs nächster Besuch war ebenfalls ein Kontrollbesuch. Er war gebeten worden, bei dem Mann vorbeizuschauen, dessen Frau sich in der Kirche in Súðavík das Leben genommen hatte. Der Hausarzt des Mannes hatte sich am Abend zuvor besorgt mit ihm in Verbindung gesetzt. Er hatte gesagt, er sei dankbar, sich an einen Fachmann wenden zu können, der mehr Erfahrung mit seelischen Problemen hätte als er. Freyr hatte in Reykjavík öfter solche Besuche gemacht und Patienten therapiert, denen es schwerfiel, den Tod eines engen Vertrauten zu verarbeiten, aber noch keine Selbstmordfälle dabei gehabt. Den Informationen des Krankenhauses nach waren bei der Frau nie Depressionen oder schwere Krankheiten aufgetreten, und es hatte keine Anzeichen für seelische Probleme gegeben. Mit anderen Worten: Es gab nichts Offensichtliches, das den letzten Ausweg der Verstorbenen erklärte. Normalerweise bemerkten die Angehörigen nur selten Anzeichen einer Verhaltensänderung und fanden den Freitod oft völlig überraschend. Wobei meistens das Gegenteil der Fall war: Wer beschlossen hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen, war ganz allmählich an diesen Punkt gekommen. Da diese Entwicklung sehr langsam vonstattenging, bemerkten die Angehörigen sie einfach nicht und hörten die immer lauter werdenden Alarmsirenen nicht.
    Im Tunnel war kein Verkehr, und Freyr ließ sich dazu verleiten, schneller als sonst zu fahren. Er wusste genau, dass die Konstruktion sicher war und der Berg ihn nicht zerquetschen wollte, war aber trotzdem jedes Mal froh, wenn er den Tunnelausgang auf der anderen Seite sah. Die Beleuchtung reichte nicht, um seine Nachtblindheit zu bekämpfen, die sich immer bemerkbar machte, wenn er bei Tageslicht in den Tunnel fuhr. Er konnte sich nie an das Licht auf der sechs Kilometer langen Strecke gewöhnen, aber sein Unwohlsein war wohl eher seelischer als biologischer Natur. Der Gedanke, an einem Ort zu sein, der von Anbeginn der Welt nicht für den Menschen bestimmt war, weckte eine Urangst ihn ihm, mit der er nicht klarkam. Diesmal machten ihm weniger die massiven Felsen oder das unnatürliche Licht zu schaffen – es war Úrsúlas Anblick, wie sie stumm mit ihm durchs Fenster geredet hatte. Freyr hatte das ungute Gefühl, versagt zu haben. Er hätte seine Fahrt zu dem Witwer in Flateyri verschieben, auf dem Parkplatz kehrtmachen und sich anhören sollen, was sie ihm zu sagen hatte. Da er keine Ahnung hatte, was es war, wurden seine Neugier und sein Bedauern, die Gelegenheit nicht beim Schopf ergriffen zu haben, nur noch stärker. Wahrscheinlich würde er nie erfahren, was sie auf dem Herzen hatte. Die verrückte Idee bohrte sich in sein Hirn, dass Úrsúla ihm etwas über seinen Sohn hatte sagen wollen. Freyr war durchaus klar, dass sie überhaupt nichts über Bennis Schicksal wissen konnte und dass dieses seltsame Gefühl wahrscheinlich mit dem Telefonat mit seiner Exfrau zu tun hatte.
    Endlich war der Tunnel zu Ende, und als Freyr nicht mehr von den stummen Felswänden umgeben war, atmete er auf. Seine Gedanken wurden wieder klarer. Es hätte nichts geändert, zurück in Úrsúlas Zimmer zu stürmen, sie hätte sich bestimmt sofort wieder in ihre Schale zurückgezogen. Zweifellos. Das GPS -Gerät piepte fröhlich, als es wieder Satellitenkontakt hatte, und führte ihn zu dem Haus des Witwers in dem kleinen Dorf, das an den Hängen des

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