Geisterfjord. Island-Thriller
Verstorbenen hatten ihre Nachfahren an die Stadt oder an ferne Länder verloren. Die Pflanzen waren ungehindert gewuchert und lagen jetzt welk und dürr zwischen den Gräbern. Die Ruhestätten der ehemaligen Dorfbewohner waren mit verwitterten Kreuzen und mehr oder weniger schiefen Grabsteinen gekennzeichnet. Katrín wusste, dass ihre Phantasie verrückt spielte, aber sie fand die Vegetation an diesem Ort noch lebloser als anderswo in der Gegend, und die Stiele und vertrockneten Blätter unter ihren Füßen knackten noch lauter. Auch der Wind wirkte kälter und schien etwas zu flüstern, das sie nicht richtig verstehen konnte. Katrín fror sofort und hatte das Gefühl, dass ihr nie wieder warm werden würde. Sie ging ein paar Schritte zu einer eingefriedeten Grabstätte mit einem stattlichen Eisenkreuz, das zerbrochen war und sich zur Seite neigte. Die Einfriedung musste einstmals ungewöhnlich prachtvoll gewesen sein, auch wenn die elegante Eisenkonstruktion jetzt genauso verrostet war wie das Kreuz. Der Anblick war traurig.
Schnell drehte Katrín den Kopf, um zu sehen, ob Garðar und Líf noch an derselben Stelle saßen. Natürlich taten sie das und waren in ein Gespräch vertieft. Am liebsten hätte Katrín kehrtgemacht und wäre zu ihnen gerannt, hätte den Friedhof erst inspiziert, wenn die beiden mitgekommen wären. Aber sie wusste, dass sie sich später ärgern würde, wenn sie nicht nachschaute, ob die Kreuze von dem Friedhof stammten. Deshalb riss sie sich zusammen und ging mit schnellen Schritten zum ersten Grab, auf dem ein mächtiger Grabstein mit den Namen eines Ehepaars stand, das 1949 gestorben war. Weder die Jahreszahl noch die Namen passten. Auf den Kreuzen hatte
Hugi
und
Bergdís
gestanden, und obwohl sich Katrín nicht ganz sicher war, meinte sie, dass beide 1951 gestorben waren. Eigenartig, dass sie das überhaupt noch wusste, denn es fiel ihr furchtbar schwer, sich Zahlen zu merken. Sie ging zum nächsten Grab, aber dort war die Aufschrift auf dem Grabstein so verwittert, dass man überhaupt nichts erkennen konnte. Ebenso wie bei den beiden nächsten Grabsteinen. Während sie noch überlegte, ob sie alle Gräber überprüfen sollte, sah Katrín, dass an dem Denkmal ein Schild befestigt war.
Auf dem schönen, schlichten Stein thronte ein Kreuz, und in einer Vertiefung an der Vorderseite des Denkmals befanden sich eine hübsche Glocke und das Schild. Katrín lächelte, als sie davorstand und sah, dass das Schild eine Karte mit der Anordnung der Gräber und eine Liste mit den Namen der Verstorbenen zeigte. Außerdem gab es ein Schwarzweißbild von einer kleinen Kirche mit Informationen über das Dorf. In Hesteyri hatte früher eine Kirche gestanden, die 1899 erbaut worden war – ein Geschenk des Norwegers M. C. Bull, der die Walfangstation Hekla in Stekkeyri kurz hinter dem Dorf betrieben hatte. Vor dem Bau der Kirche hatte es einige Jahrzehnte eine Kapelle im Dorf gegeben. Die Kirche war 1960 nach Súðavík versetzt worden, aber die Glocke in dem Denkmal stammte aus der Kirche und war ursprünglich von 1691. Das fand Katrín bemerkenswert, zumal sie hier ungeschützt und für jeden zugänglich hing. Es folgten ein paar Informationen über Hesteyri, die ziemlich kurz gehalten waren, wenn man bedachte, wie viele Menschen ihr Leben hier mit all seinen Mühen, Widrigkeiten und Glücksmomenten verbracht hatten. Man begnügte sich damit zu erwähnen, dass Hesteyri 1881 offiziell Handelsplatz geworden war und dass in Blütezeiten 420 Menschen dort ihren festen Wohnsitz gehabt hatten. Vor Ort hatte es eine Funkstation, später eine Telefonstation und einen Arzt gegeben. Über das Ende der Besiedlung stand nur, dass das Dorf seit 1940 immer kleiner geworden war und die letzten Einwohner 1952 weggezogen waren.
Die Liste der Verstorbenen, die auf dem Friedhof ruhten, war aufschlussreicher. Es gab zwei Gruppen: Verstorbene, die zwar hier beerdigt worden sein mussten, deren Grabstellen jedoch nicht bekannt waren, und Verstorbene in markierten Gräbern. Die unbekannten Grabstellen waren meist aus der Zeit um die Jahrhundertwende 1900. Katrín vermutete, dass die Leute damals kein Geld und keine Möglichkeiten gehabt hatten, dauerhafte Markierungen anzubringen, und die Grabstätten daher in Vergessenheit geraten waren. Die Natur hatte Grabhügel und andere Merkmale einfach eingeebnet. Die bekannten Gräber stammten aus jüngerer Zeit, überwiegend aus den dreißiger Jahren. Katrín war überrascht, dass
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