Geisterfjord. Island-Thriller
Nähe ist eine große Tankstelle, und zu diesem Zeitpunkt war unheimlich viel Verkehr in der Stadt. So, wie ich es damals verstanden habe, wurden die Suchhunde durch Autoabgase behindert. Und dann fing es am Abend auch noch an zu schütten.«
»Könnte er entführt worden sein? Wenn viel Verkehr war, könnte ihn doch jemand in ein Auto gezerrt haben. An der Tankstelle zum Beispiel.«
»Das ist nicht ausgeschlossen, aber es wurde ausgiebig untersucht. An der Tankstelle gab es jede Menge Überwachungskameras, und keine hat etwas Verdächtiges aufgezeichnet. Die Kameras reichen fast über das gesamte Grundstück und haben jeden einzelnen Wagen aufgenommen, der die Tankstelle angefahren hat. Die Kennzeichen sämtlicher Autos, die an diesem Tag an der Tankstelle waren, wurden aufgelistet und die Eigentümer kontaktiert, aber das hat auch nichts gebracht.«
Dagný schaute ihn nachdenklich an. »Aber er könnte noch am Leben sein, oder?«
Freyr zögerte einen Moment mit der Antwort. Er wusste, dass sie es gut meinte und ihm Hoffnung machen wollte, aber die Realität war eine andere. Das Schlimmste, das er sich vorstellen konnte, war, dass Benni noch am Leben und in den Händen eines Verbrechers war. Kein normaler Mensch würde ein fremdes Kind einfach verschwinden lassen. Freyr wollte sich mit der einfachsten und zugleich unerträglichsten Möglichkeit abfinden – dass Benni tot war. Sara rang immer noch mit dem Schicksal ihres Sohnes und versank immer mehr im Esoteriksumpf. »Nein, er ist tot. Benni hatte angeborene Diabetes, Typ eins. Er hätte ohne Insulin nicht lange leben können und ungefähr eine Stunde nach seinem Verschwinden eine Spritze kriegen müssen. Man hat auch überprüft, ob ungewöhnliche Insulin-Käufe getätigt wurden. Wenn jemand ihn gefangen gehalten hätte, hätte er regelmäßig Insulin besorgen müssen. Sämtliche Ärzte und Apotheken waren darüber informiert, und es wurden keine Auffälligkeiten entdeckt. Wahrscheinlich hatte Benni in seinem Versteck, am Strand oder wo auch immer, einen Insulinschock, und das Ende war vorprogrammiert. Er hat das Bewusstsein verloren und konnte keine Hilfe mehr holen.« Freyr lächelte Dagný dumpf zu. »Es klingt vielleicht seltsam, aber das tröstet mich ein bisschen. Ein solcher Tod ist völlig schmerzlos.«
»Verstehe.« Dagný streckte sich und schlug die Beine übereinander. »Das ist schrecklich, es tut mir furchtbar leid. Ich wollte dir das schon lange sagen, habe es aber nie über mich gebracht. Man weiß einfach nicht, wie man mit so was umgehen soll.«
»Danke«, sagte Freyr aufrichtig. Sara fand die Anteilnahme anderer Menschen immer oberflächlich und meinte, niemand könne sich in sie hineinversetzen und ihre Verzweiflung verstehen. Freyr war anderer Meinung. Man musste nicht selbst durch die Hölle gehen, um Mitleid mit anderen zu empfinden. »Es ist furchtbar, aber man gewöhnt sich daran. Das Schlimmste ist vorbei.«
»Waren die Ermittlungen schwierig für euch?«, fragte Dagný. Ihre Wangen wurden wieder von einer leichten Röte überzogen, und sie fügte hastig hinzu: »Ich meine, ob man es euch hätte leichter machen können. Ich denke oft darüber nach, wie die Leute die Polizei wahrnehmen, ob wir wirklich härter erscheinen, als wir eigentlich sind.«
Freyr überlegte. Darüber hatte er noch nie nachgedacht. »Ich weiß es wirklich nicht. Das Schlimmste war wohl, dass Sara, Bennis Mutter, und ich am Anfang unter Verdacht standen. Natürlich hatten wir Verständnis dafür, dass man nichts ausschließen kann, aber es war trotzdem hart.«
»Das war aber nur ganz am Anfang, oder?«
Freyr nickte. »Ja, im Grunde schon. Ich konnte beweisen, dass ich im Krankenhaus war, um Bennis Medikamente zu holen und ein paar Dinge zu erledigen, und Sara hatte seit dem Morgen Besuch von ihrer Schwester, um die Geburtstagsfeier ihrer Mutter vorzubereiten. Das wurde alles überprüft, und als wir nicht mehr unter Verdacht standen, waren sie viel freundlicher zu uns.« Er lächelte, um ihr zu zeigen, dass er der Polizei gegenüber nicht nachtragend war. Freyr wusste nicht, ob Dagný das unpassend fand, zumindest erwiderte sie sein Lächeln nicht. »Vielleicht sollte ich langsam zum Thema kommen«, sagte sie und stellte eine kleine lachsfarbene Kiste auf den Tisch. »Ich habe Material zu dem Einbruch in dem Kindergarten zusammengestellt, das du dir mal anschauen sollst. Ich weiß, dass ich nicht gerade begeistert war, als du vorgeschlagen hast, den alten
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