Geisterfjord. Island-Thriller
das jüngste Grab auf dem Friedhof von 1989 war. Darin ruhten drei Personen, von denen nur die Nationalität lesbar war, zwei Norweger und ein Deutscher. Was für ein trauriges Schicksal, in einem fremden Land beerdigt zu sein, in dem im Lauf der Zeit Namen und Geburtsjahre in Vergessenheit gerieten.
Die Ausländer waren für Katrín weniger interessant, aber sie fand die Namen von den Kreuzen, die sie gefunden hatte: Hugi Pjetursson und Bergdís Jónsdóttir, beide 1951 gestorben, sie mit zweiunddreißig und er mit vier. Katrín starrte die beiden Namen an und dachte an diese viel zu kurzen Leben. Wahrscheinlich war Bergdís die Mutter des Jungen, aber der Vater lag nicht im selben Grab, und auf den beiden Listen wurde kein Pjetur erwähnt. Katrín war froh, dass Líf bei Garðar geblieben war – es wäre ihr angesichts von Einars kürzlichem Tod unangenehm gewesen, sie dabeizuhaben. Einar war friedlich eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht, während Bergdís und Hugi zweifellos durch einen Unfall oder eine ansteckende Krankheit ums Leben gekommen waren, da sie im selben Jahr, wenn nicht gar am selben Tag gestorben waren. Einars Schicksal war wohl das wünschenswertere, aber es lag nun mal nicht in der Macht des Menschen, über sein Ende zu bestimmen. Líf wäre da bestimmt anderer Meinung, denn sie war mit ihrem kalten, toten Ehemann neben sich aufgewacht. Katrín lief ein kalter Schauer über den Rücken.
Der Lageplan des Friedhofs wies ihr den Weg zu Hugis und Bergdís’ Grab, einer eingefriedeten, aber unmarkierten Grabstätte. Wenn sie keine Karte gehabt hätte, wäre sie in dem Glauben gewesen, es handele sich um alte Gräber, die seit Verlassen des Dorfes nicht mehr belegt worden waren. Im Gegensatz zu den anderen Gräbern wuchs dort nichts, und der Boden war mit schwarzer, staubiger Erde bedeckt. Obendrauf lagen weiße Kieselsteine, aber keine Spuren von Unkraut, Gras oder Halmen. Das Grab war mit einer niedrigen, halb verfallenen Steinmauer eingefasst. Als Katrín bei dem Grab angelangt war, tobte der Wind, und das unheimliche Flüstern wurde lauter. Sie musste ihre Haare festhalten, um etwas erkennen zu können, obwohl das eigentlich gar nicht nötig war. Sie wusste, dass die Kreuze von hier stammten. Als sie ihre Haare gebändigt hatte, sah sie ihre Vermutung bestätigt. Zwei abgebrochene Holzstümpfe ragten am Ende des Grabs aus der Erde. Bingo. Auch wenn das keine Erklärung dafür war, warum die Kreuze entwendet und in die Nähe ihres Hauses gelegt worden waren, beruhigte es Katrín, wenigstens etwas über ihre Herkunft zu wissen. Vielleicht hatten betrunkene Wanderer die Kreuze zerstört und neben ihr Haus geworfen, wobei sie das seltsam fand, je länger sie darüber nachdachte. Ihre Gewissheit verschwand endgültig, als sie sah, dass die weißen Kieselsteine gar keine Steine, sondern Muscheln waren.
Katrín hob eine von ihnen auf und musterte sie von allen Seiten. Sie war hell, gestreift und leer. Im Gras neben dem Grab lagen keine weiteren Muscheln. Wenn Vögel am Werk gewesen wären, hätten die Muscheln weiter verstreut sein müssen. Außerdem hätten Vögel die Muscheln nicht in die Erde gedrückt – sie lagen alle mit der gewölbten Seite nach oben. Als ein Windstoß über das Grab fegte, waren die Muscheln schon nicht mehr so auffällig weiß. Der nächste Windstoß war noch kräftiger und bedeckte einige Muscheln fast ganz mit Erde. Katrín umkrallte die Muschel in ihrer Hand, machte auf dem Absatz kehrt und eilte zurück zu Garðar und Líf. Es war undenkbar, dass die Muscheln seit dem Herbst dort lagen. Wenn man sah, wie schnell der Wind sie mit Erde zuwehte, waren sie wahrscheinlich noch nicht mal seit heute Morgen dort. Aber wer hatte sie auf das Grab gelegt? Katrín musste herausfinden, ob sie genauso aussahen wie die Muscheln, die Garðar in der Stube gefunden hatte. Vielleicht war noch jemand im Dorf, der nicht entdeckt werden wollte.
Katrín war froh, als sie den Friedhof verlassen hatte und Garðars und Lífs Köpfe sehen konnte. Im selben Moment verstand sie, was ihr der Wind die ganze Zeit zuflüsterte.
Lauf, Kata!
8. Kapitel
Das Foto seines Sohnes stand an seinem Platz auf dem Schreibtisch in Freyrs schlichtem Arbeitszimmer im Krankenhaus, für dessen Einrichtung ihm bisher die Energie gefehlt hatte. Bis auf das Foto. Ähnliche Fotos standen überall, wo er im Lauf des Tages vorbeikam: zu Hause auf der Anrichte in der Küche neben der Kaffeemaschine, auf dem
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