Geisterfjord. Island-Thriller
sie in aller Ruhe jahrzehntelang verrottet war. Durch das große Loch sah man den dunklen Erdboden unter der Terrasse. Abgesehen von den Tierknochen, die sie dort gefunden hatten, wirkte diese düstere Stelle genauso kahl und ausgestorben wie der Mond. Katrín ekelte sich vor dem trüben Dunst, der von dort unten aufstieg, obwohl er nicht schlimm roch. Vielleicht machte ihr der Knochenfund zu schaffen. Sie verstand nicht, warum sie bei dem Gedanken erschauerte – schließlich war sie keine Vegetarierin, und Knochen sollten eigentlich keine besonderen Emotionen in ihr wecken. Dennoch vermied sie es, unter die Holzbretter zu schauen. Vielleicht hatte sie Angst, auf Menschenknochen zu stoßen, auf die sterblichen Überreste der Frau und des Jungen, für die die Kreuze errichtet worden waren.
»Igitt.« Garðar erschien in der Türöffnung und sah finster aus. Sein Gesicht und seine Klamotten waren mit weißen Farbklecksen übersät, und seine dunklen Bartstoppeln hatten sich in einen unregelmäßigen, schlecht gepflegten Flaum verwandelt. Er sah aus, als hätte er einen Kater oder sei schlecht gelaunt, und als Katrín die Augen zusammenkniff, sah sie einen Mann, der dabei war, den Halt im Leben zu verlieren. Seine blutunterlaufenen Augen verstärkten diesen Eindruck noch.
»Ich war so kurz vorm Ersticken.« Garðar zeigte mit seinem Daumen und seinem Zeigefinger einen winzigen Abstand. »Ich hatte ganz vergessen, wie ekelhaft Verdünnungsmittel ist.« Als zuletzt etwas bei ihnen gestrichen werden musste, hatten sie einen Maler beauftragt, denn Geld war kein Problem gewesen und man hatte sich nicht unnötig schmutzig machen wollen. Wenn ihnen damals jemand erzählt hätte, dass sie in ein paar Monaten kurz vorm Bankrott stehen würden, hätten sie mitleidig gelächelt und dem Betreffenden entgegnet, er solle seine Medikamente nehmen. »Ich verstehe nicht, dass Líf so lange durchhält. Sie ist schon mit der Tür und den Fensterrahmen im Dachzimmer fertig.« Garðar lehnte sich schwerfällig gegen den Türrahmen. »Ich hab zwar noch nie so schlecht gestrichenes Holz gesehen, aber bei Sonnenschein fällt das nicht mehr so auf.« Er trat aus der Tür. »Was ist denn hier passiert?« Er hatte die kaputte Stelle auf der Terrasse entdeckt, klang aber relativ gelassen.
»Ich war stärker, als ich dachte«, sagte Katrín lächelnd. »Das ist eigentlich nur passiert, weil ich keine Ahnung habe, was ich eigentlich mache. Ich musste einfach raus.«
»Ich wäre besser mitgekommen. Aber jetzt ist es leider zu spät, der Geruch hat sich in meinen Klamotten und wahrscheinlich in meinem ganzen Körper festgesetzt.« Garðar strich sich mit der Hand durchs Haar und zerzauste es, um den Geruch loszuwerden. »Ich wollte einen kleinen Spaziergang machen, zur Aufheiterung. Willst du mitkommen?«
»Unbedingt.« Katrín stand auf, erleichtert, nicht herausfinden zu müssen, wie die Terrasse noch zu retten wäre. Am liebsten hätte sie das Loch unter der Holzkonstruktion mit Sand oder Kies aufgefüllt und dann neue Bretter darübergelegt, aber etwas sagte ihr, dass Terrassen nicht umsonst auf ein Fundament gebaut waren. »Ich hole Líf. Es wird ihr guttun mitzukommen.«
»Dem Haus tut es auch gut, wenn sie eine Pause macht.« Die Terrasse knarrte, als Garðar sich bückte und auf dem kaputten Rand herumdrückte. »Und der Terrasse schadet es bestimmt auch nicht, wenn wir die Arbeit niederlegen.« Er richtete sich auf und folgte Katrín ins Haus. »Warst du eben unten am Strand?«, rief Garðar, während er im Vorzimmer seinen Anorak anzog und Katrín die Treppe hinaufging, um Líf zu holen. Als er in einen Ärmel schlüpfte, stieß er mit der Hand gegen das Regal und fluchte laut.
Katrín wartete, bis er damit fertig war, und drehte sich dann auf der Treppe um. »Ob ich am Strand war?«
»Ja, ich hab in der Stube Spuren von nassen Schuhen und Muscheln auf dem Boden gesehen. Ich hoffe, du willst nicht das Haus damit schmücken. Mir reichen schon simple Reparaturen, da brauche ich nicht auch noch Bastelarbeiten mit Muscheln.«
Katrín grinste. »Ich hab keine Muscheln gesammelt. Ich hab nur die Terrasse zerstört.« Sie zog ihren Anorak auf. Die kalte Luft erfrischte sie, aber sie fing sofort an zu frieren und zog ihn wieder zu. »Das Zeug muss schon hier gewesen sein.«
»Das bezweifle ich. Ich kann mich nicht erinnern, es schon mal gesehen zu haben.«
»Ich habe keine Muscheln gesammelt, und wenn du es auch nicht warst, dann
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