Geisterfjord. Island-Thriller
unangenehm geworden waren, hatte sich Freyr entschuldigt und war gegangen. Erst da hatte er gemerkt, dass er verrückt wurde. Da war kein Kind gewesen, und schon gar nicht sein längst verstorbener Sohn.
Nun war er wieder bei der Arbeit und stand in der Mitarbeiterumkleide vorm Spiegel. Er riss sich von seinem Spiegelbild los und atmete tief durch. Die gelblichen, glänzenden Fliesen hatten ihn schon immer gestört, aber als sie jetzt sein erschöpftes Abbild einrahmten, fand er sie noch unerträglicher als sonst. Seine Augen waren blutunterlaufen und sein Gesicht nach der schlaflosen Nacht aufgedunsen. Er hatte am Morgen so lange darüber nachgedacht, ob er verrückt wurde, dass er es nicht mehr geschafft hatte, sich zu rasieren. Deshalb war sein Kinn zu allem Überfluss auch noch mit dunklen Bartstoppeln verziert, und Freyr war sich ziemlich sicher, dass Patienten und Kollegen ihn verdächtigen würden, gestern Abend zu tief ins Glas geschaut zu haben. Er konnte nur hoffen, dass der Tag es gut mit ihm meinen würde. Er war es gewohnt, zwei Tage am Stück zu arbeiten, und hatte im Grunde keine Angst davor. Das war immer noch besser, als zu Hause zu sitzen und sich in Gedanken immer nur im Kreis zu drehen. Hier konnte er sich immerhin auf die Arbeit konzentrieren und hatte keine Zeit, über solchen Quatsch nachzudenken. Nur einen Gedanken musste er immer wieder hartnäckig verdrängen. Eigentlich hätte er seinem Chef mitteilen müssen, dass er sich Sorgen um seine psychische Stabilität machte. Aber Freyr wusste, wie das enden würde: Man würde ihn für zehn Tage beurlauben, was eine zusätzliche Belastung für seine Kollegen darstellen würde. Er nahm sich vor, sofort zu seinem Chef zu gehen, wenn er das Gefühl hatte, seinen Job nicht mehr ausüben zu können und die Sicherheit der Patienten zu gefährden.
Im Augenblick schien diese Gefahr jedoch nicht zu bestehen. Die Dinge liefen reibungslos, und er sah und hörte nichts Ungewöhnliches. Wenn er jedoch wirklich ernstzunehmende psychische Störungen hätte, wäre er gar nicht urteilsfähig und könnte nicht mehr einschätzen, was normal war. Trotz seiner fachlichen Ausbildung und seiner Erfahrung mit Menschen, die eine gestörte Wahrnehmung hatten, war er tief im Inneren davon überzeugt, dass das nicht auf ihn zutraf. Es konnte nicht sein. Und durfte einfach nicht sein. Freyr hatte die Krankenschwester bei der Visite genau beobachtet, und sie hatte ganz normal auf ihn reagiert. Sicherheitshalber hatte er eine dumme Bemerkung über den Zustand eines Patienten gemacht und sich gefreut, als die Frau die Stirn gerunzelt und ihn fragend angeschaut hatte. Hoffentlich blieb der gestrige Vorfall eine Ausnahme.
Freyr eilte in sein Büro und wollte den Arzt anrufen, der Halla obduziert hatte. Er hatte es am Morgen schon zweimal versucht, aber nur die Zentrale erreicht. In dem leeren Büroflur zögerte er. Er ging weiter und rechnete damit, etwas Absurdes zu sehen oder zu hören. Das nervige Quietschen seiner Schuhe wurde immer lauter. Der Linoleumboden glänzte unangenehm. Die Neonlampe flackerte und knisterte immer noch. Freyr musste unbedingt den Hausmeister darauf hinweisen, die Birne auszutauschen. Im Grunde war er der blöden Lampe sogar dankbar, als er mit feuchter Hand die Klinke zu seinem Büro herunterdrückte. Wenn er an so profane Dinge wie Reparaturen dachte, verschwand das Bild von seinem Sohn, der durch den Flur rannte, aus seinem Kopf.
Freyr wollte die Tür hinter sich zumachen, hielt jedoch inne, als ihm einfiel, dass sie zweimal von alleine aufgegangen war. Natürlich konnte sie kaputt sein. Ein verzogener Türrahmen oder eine defekte Klinke konnten dafür verantwortlich sein, dass sie sich geöffnet hatte, was wiederum eine Vision in ihm ausgelöst haben konnte, die sich nach langer seelischer Belastung und allgemeiner Müdigkeit in ihm angestaut hatte. Das klang alles sehr überzeugend, während er zu seinem Schreibtisch ging und die Tür hinter sich weit offen stehen ließ. Bis sie mit einem lauten Knall zuschlug. Freyr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er schluckte und ging ganz ruhig weiter. Wenn die Tür kaputt war, konnte sie ebenso gut von alleine zufallen wie aufgehen. Als er sich gesetzt hatte, starrte er die braune Tür an, sämtliche Nerven und Muskeln angespannt, und wartete darauf, dass ein Zucken durch seinen Körper ging, sobald sich die Tür wieder öffnete. Doch nichts geschah. Ohne die Tür aus den Augen zu lassen, nahm
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