Geisterfjord. Island-Thriller
er den Telefonhörer, wählte die Nummer der Zentrale und fragte nach dem Hausmeister. Er war erleichtert, als er hörte, dass seine Stimme ganz normal klang.
Der Hausmeister antwortete nach sechsmaligem Klingeln, als Freyr gerade schon wieder auflegen wollte. Er war ein älterer Mann, ein ruhiger, angenehmer Zeitgenosse. Als Freyr sein Anliegen vorbrachte, war er verwundert und sagte, er hätte die Glühbirne erst am Morgen ausgewechselt. Freyr brauchte eine Weile, um den Mann davon zu überzeugen, dass sie vor einer Minute noch geflackert hatte, aber am Ende ließ er sich widerwillig dazu überreden vorbeizuschauen. Dann fragte Freyr noch, ob ihm ein Problem mit den Türen im Bürotrakt bekannt sei, ob das Haus schief sei oder es sonst einen Grund gebe, warum sie einfach so auf- und zugingen. Der Mann verstand die Frage zunächst nicht, und Freyr fügte hinzu, seine Tür würde von alleine aufgehen und zufallen, ohne dass man sie berührte. Da entgegnete der Hausmeister, soweit er wüsste, sei das Haus ziemlich gut gebaut und rechtwinkelig. Und falls es schief sei, müsse Freyrs Tür entweder auf- oder zugehen, nicht beides. Es sei denn, das Haus sei nicht schief, sondern schaukele hin und her.
Freyr verabschiedete sich mit geröteten Wangen und wandte sich dem nächsten Telefonat zu. Obwohl er wusste, dass Dagný darauf wartete, dass er sich wegen der Unterlagen bei ihr meldete, konnte er im Moment nicht mit ihr reden. Noch weniger wollte er sie in seinem momentanen Zustand treffen. Stattdessen wählte er die direkte Durchwahl des Arztes in der Rechtsmedizin in Reykjavík. Der ging beim ersten Klingeln ran. Freyr stellte sich vor, und sie wechselten ein paar Höflichkeitsfloskeln, bevor sie zum Thema kamen: Halla, die nach der Obduktion auf der harten Metallbank lag.
»Eigentlich wäre es am besten, wenn Sie mal vorbeikommen könnten.« Der Arzt namens Karl war sehr erstaunt darüber, dass Freyr in Hallas gesamter Krankenakte keine einzige Bemerkung über die Narben auf ihrem Rücken gefunden hatte. »Vielleicht hat sie sich diese Verletzungen selbst zugefügt und war psychisch labil. Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet und würde gerne Ihre Hilfe in Anspruch nehmen.«
»Die Frühmaschine ist schon weg, ich könnte erst gegen Abend da sein, wäre das machbar?« Freyr merkte, dass er den starken Drang hatte wegzukommen. »Ich könnte natürlich auch über Nacht bleiben und direkt morgen früh bei Ihnen sein, wenn das besser passt.«
Karl überlegte kurz und sagte dann, die zweite Alternative passe ihm besser. »Aus Sparmaßnahmen schließt die Rechtsmedizin schon um fünf Uhr. Wir können natürlich trotzdem rein, aber ich habe zur Zeit keine große Lust, umsonst zu arbeiten.«
Das war bei Freyr völlig anders. Er würde noch nicht mal um die Erstattung seines Flugtickets bitten, aus Angst, die Sache zu verkomplizieren und die Gelegenheit zu einer kleinen Spritztour zu verpassen. Er würde sogar einen Urlaubstag dafür opfern, wenn es sein musste. »Gut, dann sehen wir uns morgen früh um acht«, sagte er.
»Okay, ich rolle Halla noch mal zurück in den Kühlraum.«
Der Zustand des alten Mannes hatte sich verschlechtert. Das überraschte niemanden, am allerwenigsten ihn selbst. Die Ringe unter seinen Augen waren gelblich verfärbt, und trotz des Fiebers, das sich in seinem Körper eingenistet hatte, war er ganz bleich im Gesicht. Selbst der Husten brachte keine Farbe in seine Wangen, und das schwache Röcheln störte ihn beim Reden.
»Entschuldigung«, sagte er, führte seine knochige Hand an sein Gesicht und wischte sich mit einem Taschentuch Spucke von der violetten Unterlippe. »Ich kann mich gut an die Kinder erinnern, ich habe die Klasse, ein Jahr nachdem das Foto gemacht wurde, übernommen. Die Klassenlehrerin hatte einen Unfall, und ich bin eingesprungen, da meine alte Klasse im Frühjahr mit der Schule fertig war.« Er legte das Bild in seinen Schoß und sackte zurück ins Kissen. Die Lehne des Krankenbetts war hochgestellt, so dass er mehr saß als lag. »Es wurde viel darüber diskutiert, warum der Einbrecher sich ausgerechnet dieses Foto ausgesucht hatte. Es hingen noch mehr an der Wand, aber die hat er alle in Ruhe gelassen.«
»Hatten die Kinder, deren Gesichter er durchgestrichen hat, etwas gemeinsam?« Freyr hatte die Liste mitgenommen und las die Namen vor. »Waren sie befreundet, in einer Clique oder so?«
»Das wussten wir nicht so genau. In den Pausen gab es keine besondere
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