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Geisterfjord. Island-Thriller

Geisterfjord. Island-Thriller

Titel: Geisterfjord. Island-Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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haben.
    Garðar ließ den Schein der Taschenlampe mehrmals durch den Raum schweifen, bis er endlich überzeugt war, dass sich dort nichts verbarg. Dann drehte er sich zu Katrín und ließ sie vor sich her zur Tür gehen. Er dirigierte sie in den Flur und zur Treppe. »Geh rauf, ich warte so lange hier.« Katrín hatte keine Kraft mehr zu fragen, warum er unten warten wollte. »Halt dich am Geländer fest, ich brauche das Licht hier unten. Ich will nur sicher sein, dass uns niemand auflauert.« Das reichte. Katrín eilte nach oben ins Dunkle. Als nur noch eine Stufe vor ihr lag, roch sie etwas Merkwürdiges und verlangsamte ihren Schritt. Sie sah nichts, außer dem konturlosen, menschenleeren Flur. Natürlich war das Einbildung, aber sie spürte, wie sich die Haare auf ihren Armen aufrichteten, als sie den letzten Schritt gemacht hatte und den Flur betrat. Bevor ihr klar wurde, was passierte, wurde die Tür neben dem Treppenabsatz mit voller Wucht aufgestoßen. Der Schlag traf sie und katapultierte sie nach hinten. Sie merkte, dass sie das Gleichgewicht verlor, und die Stufen verschwammen unter ihren Füßen.

12. Kapitel
    Der Sturm war in der Nacht über Ísafjörður hinweggefegt und nach Norden zu den verlassenen Siedlungen in den Jökulfjorden gezogen. Freyr konnte fast auf die Minute genau sagen, wann sich der Wind gelegt hatte, denn er hatte kein Auge zugemacht. Erst hatte ihn das ständige Trommeln des Schneeregens gegen das Schlafzimmerfenster daran gehindert, bis er sich die Stöpsel seines iPods in die Ohren gesteckt und sich der Musik überlassen hatte, um nicht verrückt zu werden. Ihm war klar, dass er kurz davor war, den Boden unter den Füßen zu verlieren, dass er ihn nach den üblichen Diagnosen, die er auf seine Patienten anwandte, sogar schon verloren hatte. Er hörte Stimmen und hatte Wahnvorstellungen, die nicht mit der realen Welt übereinstimmten, und davor hatte er sich immer gefürchtet. Was für eine Ironie des Schicksals, wenn man bedachte, dass er Sara verlassen hatte, um dem womöglich Unumgänglichen zu entfliehen. Vielleicht hatte er sich nicht früh genug von ihr getrennt, und der Keim der Krankheit hatte bereits Wurzeln geschlagen, als er seine Sachen gepackt hatte. Im Grunde wunderte er sich gar nicht so sehr über die Entwicklung der Dinge, vielmehr überraschte ihn, wie real ihm das Irreale vorkam. Jetzt verstand er die Patienten, die vor ihm gesessen und ohne mit der Wimper zu zucken die unglaublichsten Dinge erzählt hatten, vollkommen überzeugt, dass diese Wahnvorstellungen wirklich waren. Er hatte immer geglaubt, dass die Leute solche Halluzinationen wie im Rausch erlebten, wie eine dickflüssige Wirklichkeit, die man leicht von der Normalität abgrenzen konnte – zumindest im Nachhinein. Aber das war nicht der Fall. Bennis Stimme hatte genauso geklungen wie die Stimmen seiner Kollegen an einem normalen Arbeitstag.
    Was die Vision noch eindrucksvoller gemacht hatte. Als Freyr gestern Abend endlich Mut gefasst hatte, in den Gang zu schauen, hatte er seinen Sohn weglaufen sehen – genauso groß wie am Tag seines Verschwindens und in derselben Kleidung. Auch wenn sein Verstand ihm sagte, dass das unmöglich war, war er sich sicher, dass seine Augen ihn nicht getäuscht hatten. Es half nichts, sich immer wieder zu sagen, dass Benni ohne jeden Zweifel tot war und dass er, selbst wenn er noch leben würde, in den drei Jahren seit seinem Verschwinden erheblich gewachsen wäre. Freyr konnte sich am ehesten vorstellen, dass es ein anderes Kind gewesen war, ein Kind mit denselben Haaren wie sein Sohn und in derselben Kleidung. Aber die Absurdität eines solchen Zufalls und die Art und Weise, wie der Junge aus seinem Blickfeld verschwunden war, verunsicherten ihn. Nach einer wilden Verfolgungsjagd, bei der der Junge durch mehrere Türen geflohen war, stets in unerreichbarer Entfernung, war er in eine Krankenstation gerannt und hatte sich in Luft aufgelöst. Als Freyr keuchend dort angekommen war, hatte niemand eine Menschenseele gesehen. Zwei Krankenschwestern, die Freyr fast umgerannt hätte, als er um die Ecke gebogen war, hatten nur den Kopf geschüttelt und sich über Freyrs Benehmen gewundert. Er hatte japsend und keuchend mit zerzausten Haaren vor ihnen gestanden und nicht richtig erklären können, was los war. Zumal er laut Schichtplan an diesem Abend freigehabt hätte und gar nichts im Krankenhaus zu suchen hatte. Als ihm die vielsagenden Blicke zwischen den Krankenschwestern

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