Geisterfjord. Island-Thriller
Gruppenbildung. Die meisten Schüler hatten einen besten Freund oder eine beste Freundin. Solche Freundschaften hat man natürlich registriert, wenn die Kinder unbedingt nebeneinandersitzen wollten und außerhalb des Unterrichts unzertrennlich waren. Ansonsten haben wir von der Freizeit der Kinder nicht viel mitbekommen. Damals gab es noch mehr Disziplin, und die Schule hatte vorrangig die Aufgabe, den Kindern in kürzester Zeit möglichst viel beizubringen. Es wurde kein Wert auf spielerisches Lernen, oder wie das heutzutage heißt, gelegt. Bestimmt haben sie außerhalb des Unterrichts Grüppchen gebildet, aber wir Lehrer hatten nach der Schule meistens genug mit unseren eigenen Kindern zu tun und haben uns keine Gedanken über unsere Schüler gemacht. Das war Aufgabe der Eltern.«
Freyr nickte. »Glauben Sie, dass eines dieser Kinder noch in Ísafjörður wohnt? Ich würde zum Beispiel gerne mal mit Lárus Helgason reden.« Er sagte nicht, dass Lárus das einzige Opfer war, das noch lebte.
Der alte Mann überlegte. »Soweit ich weiß, wohnt der schon lange nicht mehr in Ísafjörður. Er ist als junger Mann nach Reykjavík gegangen, um Automechaniker zu lernen, und nicht mehr zurückgekehrt. Aber vielleicht irre ich mich auch.«
»Ich finde ihn bestimmt im Telefonbuch.« Freyr lächelte dem Mann zu. »Erinnern Sie sich noch an Halla? Sie war auch in dieser Klasse, hat aber später in Flateyri gewohnt.«
Wieder überlegte der alte Mann eine Weile, bevor er antwortete: »Doch, doch, ein kleines, dunkelhaariges Pummelchen. Ziemlich impulsiv, wenn ich mich recht erinnere.« Er schaute Freyr mit seinen wasserblauen Augen an. »Ihr Vater war Trinker und hat ihre Mutter und die Kinder schlecht behandelt. Das Mädchen hat sich für die Umstände unheimlich gut gemacht. War aufgeweckt, wenn auch nicht allzu intelligent. Zum Glück hat der Vater keinem seiner Kinder diese schlechte Veranlagung vererbt. Die waren alle sehr anständig.«
»Das ist ein Glück.«
»Es gab damals ein paar ganz schlimme Säufer in der Stadt. Aber ich glaube, das wird langsam weniger. Den Leuten sind die Gefahren des Alkohols bewusster als damals.« Der alte Mann nahm das Bild wieder in die Hand. »Der Vater von dem Kleinen hier hatte auch ein schlimmes Alkoholproblem. Ein widerwärtiger Kerl.«
Der krumme Finger des alten Lehrers zeigte auf den zerlumpten Jungen, der etwas abseits von der Gruppe am Rand der Mittelreihe stand.
»Hat der Kleine es geschafft?«, fragte Freyr
»Bernódus? Nein, das kann man leider nicht sagen.«
Freyrs Mund wurde auf einmal so trocken, dass ihm das Wasserglas mit dem Gebiss des Alten verlockend vorkam. »Haben Sie Bernódus gesagt?«
»Ja, so hieß der Kleine. Er war nicht mehr in der Klasse, als ich sie übernommen habe, aber ich kann mich noch gut an den Namen erinnern. So ein Schicksal vergisst man nicht so leicht.«
»Ist er auch dem Alkohol verfallen?«, fragte Freyr. Der alte Mann legte das Foto weg, und Freyr nahm es wieder. Die Augen des Jungen starrten ihn von der schlechten Kopie aus an.
Bernódus.
»Nein, nein, so weit ist es nicht gekommen. Er ist einfach verschwunden.« Der alte Mann hustete wieder. »Spurlos.«
13. Kapitel
Das Wetter hatte sich gebessert, aber eine gewisse Feuchtigkeit im Haus hinterlassen, die die Kälte unerträglich machte. Líf hatte es endlich geschafft, noch einen vierten Pulli über die drei anderen zu ziehen. Sie war in ständiger Bewegung und beschwerte sich bitterlich über die kratzigen Wollsocken, deren borstige Fäden durch die Baumwollsocken stachen. Aber da das Jucken weniger schlimm war als der Kältetod, ergab sie sich in ihr Schicksal und kratzte sich mit einer alten Stricknadel, die Garðar zwischen den losen Dielenbrettern gefunden hatte. Katrín fand es nervig, Lífs Zappelei mitanzusehen. Sie saß bibbernd und zitternd auf dem Küchenhocker und wusste nicht, ob die Kälte oder der Schock von gestern Abend daran schuld waren. Von dem Sturz war sie ganz blau und voller Prellungen, aber wenn man bedachte, was alles hätte passieren können, hatte sie Glück gehabt.
Katrín konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie gefallen war, welcher Körperteil auf welche Treppenstufe geprallt war und wann ihr Kopf einen so heftigen Schlag abbekommen hatte, dass sie bewusstlos geworden war. Garðars Beschreibung nach war sie wie eine Stoffpuppe die Treppe heruntergepurzelt. Nur weil sich ihr Körper so geschmeidig abgerollt hatte, war nichts Schlimmeres passiert. Als
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