Geisterfjord. Island-Thriller
Es würde ihnen so ergehen wie dem früheren Besitzer des Hauses, sie würden einfach verschwinden, und niemand würde jemals etwas über ihr Schicksal erfahren. »Ich mache bestimmt keine Fotos.«
Garðar schaute sie fast beleidigt an. »Natürlich nicht. Aber wenn wir noch eine Speicherkarte finden? Wir müssen noch zwei Kisten durchschauen.«
»Auf einer Speicherkarte kann nichts sein, was uns hilft. Wenn der Typ was gewusst hätte, das uns helfen könnte, dann hätte er ja wohl seine eigene Haut gerettet, oder?«, entgegnete Katrín. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte vergeblich, die ausgefransten Wäscheleinen zu erkennen, die irgendwo in der Dämmerung hingen.
»Sei doch nicht so negativ«, sagte Líf und rückte ein Stück von Katrín ab, besann sich dann aber und rutschte wieder zurück. Dabei stieß sie gegen Putti, der empört aufschaute, den Kopf schüttelte, so dass seine Ohren hin und her schlackerten, ausgiebig gähnte und den Kopf wieder sinken ließ. Seine glänzenden, dunkelbraunen Augen starrten unter seinem buschigen Schopf auf das karierte Muster der Decke. »Du darfst dich jetzt nicht hängenlassen. Es ist alles schon schlimm genug.«
»Ich lasse mich nicht hängen.« Katrín bekam einen Muskelkrampf und streckte ihr schmerzendes Bein aus. Sie hatte keine Ahnung, ob die Kälte Wadenkrämpfe förderte, aber ihre Beine froren trotz der dicken Skihose. »Ich bin nur realistisch. Wir haben es alle gesehen, der Mann hat genau dasselbe erlebt wie wir, aber er war alleine. Wahrscheinlich war er sogar zu einer ähnlichen Jahreszeit hier. Auf ein paar Filmausschnitten konnte man Schneereste sehen.«
»Das muss gar nichts heißen. Hier kann es auch im August schneien.« Garðar dehnte seinen Hals, offenbar war er auch schon ganz eingerostet. »Wir sollten unsere Lage nicht einfach so mit seiner vergleichen. Wie du schon sagst, wir sind immerhin zu dritt, und er war alleine.«
Katrín schwieg, obwohl sie am liebsten laut aufgelacht hätte. Sie konnten zwar abwechselnd schlafen, aber ansonsten erging es ihnen nicht besser als dem armen Mann, der an diesem einsamen und verlassenen Ort sein Leben verloren hatte. Den Filmausschnitten nach war sein Handy auch plötzlich tot gewesen. Er hatte, so wie sie, einen Jungen gesehen, der gebeugt in Reichweite gestanden hatte und verschwunden war, sobald man sich ihm näherte. Auch die beiden Kreuze waren ohne Erklärung im Haus aufgetaucht, und Katrín spürte immer noch das beklemmende Gefühl, als sie auf dem kleinen Bildschirm der Kamera erschienen waren, mit der zitternden Stimme des Mannes unterlegt. Er schien genauso wenig wie sie zu wissen, was es damit auf sich hatte. Das Ganze wurde noch beklemmender, als in einem anderen Filmausschnitt die Muscheln zu sehen waren. Doch der letzte Teil verblüffte sie am meisten. Dabei verflog sogar ihre Angst, und eine merkwürdige Ruhe überkam sie. Der Mann klang resigniert. Er sprach leise, so dass man ihn kaum verstehen konnte, zumal er übermüdet war und ständig gähnte. Er grüßte verschiedene Leute, die sie nicht kannten, und schien sich in sein Schicksal zu fügen. Er sagte, er komme nicht mehr zurück in die Zivilisation, zumindest nicht lebendig.
Sie hatten den Film immer wieder abgespult, weil sie den Mann besser verstehen wollten, und dabei die Batterie übermäßig beansprucht. Aber es hatte nicht viel gebracht. Er benutzte die Kamera wie ein Diktiergerät, und in der Dunkelheit konnte man nichts erkennen. Mit zitternder Stimme sagte er, seine Taschenlampe sei verschwunden und er spüre, dass gleich etwas geschehen würde. Im Haus rieche es unerträglich, und er stieße ständig auf nasse Fußspuren, die nicht vom ihm stammten. Etwas Heimtückische, Widerwärtiges liege in der Luft und sei hinter ihm her, wobei er nicht wisse, was er verbrochen und womit er das verdient hätte. Dann verstummte der Mann plötzlich. Unmittelbar darauf erschien eine andere Person ganz kurz im Bild, aber zu schnell, um sie richtig sehen zu können. Im Grunde war es nicht mehr als ein schwarzer Schatten vor einem etwas helleren Hintergrund. Sie versuchten, den Film in Zeitlupe abzuspielen, ihn anzuhalten und Bild für Bild zu betrachten, aber sie trafen nie den richtigen Augenblick. Dennoch zweifelte keiner von ihnen daran, dass es sich um den Jungen handelte, obwohl er heute, drei Jahre später, noch genauso alt wirkte. Man konnte hören, wie der Mann die Luft anhielt. Dann ergriff er wieder das Wort, doch der Film
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